Michael Heinemann
Zur Orgelmusik Petr Ebens
Mit Beiträgen von Birger Petersen und Ludger Udolph (= Studien zur Orgelmusik, Band 8)
Dieses Buch war überfällig. Endlich gibt es eine umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Orgelmusik des Komponisten Petr Eben (1929–2007).
Um es vorweg zu sagen: Dieses Buch war überfällig. Endlich gibt es eine umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Orgelmusik des Komponisten Petr Eben (1929–2007).
Petr Ebens Orgelwerk hat längst einen festen Platz im internationalen Konzertrepertoire, aber abgesehen von der grundlegenden Arbeit Petr Eben. Leben und Werk von Katerina Vondrovicová, 2000 in Mainz bei Schott erschienen, sowie verschiedenen Zeitschriftenartikeln gab es bisher kaum Literatur über Ebens Orgelschaffen. Vondrovicová schrieb ihre Monografie damals in enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten und erreichte so eine große Authentizität, da Eben selbst Werkinformationen und Selbstzeugnisse beisteuerte. Ähnliche Authentizität gelingt Michael Heinemann in der aktuellen Studie, die mustergültig ist in Aufbau, Vielgestaltigkeit des methodischen Ansatzes sowie in der Annäherung an Werk und Wollen eines der großen Orgelkomponisten des 20. Jahrhunderts.
Im Zentrum stehen 35 chronologisch geordnete Werkanalysen zu allen Orgelkompositionen Ebens, knappe Texte von jeweils wenigen Seiten, die dennoch alles enthalten, was zum Verständnis des Werks und seines Entstehungshintergrunds vonnöten ist. Die Analysen sind sehr gut lesbar, verlieren sich nicht in Details und stellen ein kurzgefasstes Handbuch der Orgelmusik Petr Ebens dar.
Ergänzend dazu werden 28 eigene Werkkommentare des Komponisten abgedruckt: Einführungen für Programmhefte, CD-Booklets oder Noteneditionen. So erhält die Publikation den Charakter eines „Readers“ und die Zusammenstellung dieser Originaldokumente ist von großem praktischen Wert. In den für Eben typischen uneitlen und in erstklassigem Deutsch geschriebenen Texten erfährt man viel über Form, Hintergrund und Intention seiner Werke. Auch darüber, wie schwer es der Komponist in den kommunistisch geprägten Jahrzehnten seines Heimatlandes Tschechoslowakei hatte.
Als Beispiel sei Ebens Kommentar zu seinem Orgelkonzert zitiert: „Der Originaltitel des 1. Orgelkonzertes hieß eigentlich ‚Symphonia gregoriana für konzertante Orgel und Orchester‘. Aber weil dieser Titel bei uns in der Vergangenheit Anstoß erregte, musste die Bezeichnung ‚Orgelkonzert‘ benutzt werden. Ich schrieb diese Komposition 1953, als mein erstes Orgelwerk, im Alter von 24 Jahren, in der Zeit der stärksten Verfolgung der Kirche und Verachtung der Orgel. Und so konzipierte ich diese Symphonie als Loblied Gottes und Preis der Orgel“ (S. 139). Mit dem Austausch des Titels entging Petr Eben der Zensur, und Heinemann beschreibt sehr überzeugend, wie es dem Katholiken Eben gelang, seine an Gregorianik und Liturgie orientierten Orgelkompositionen auch in den kirchenfeindlichen Zeiten des Kommunismus zu komponieren und aufzuführen: Die „Bezugnahmen auf das Liedgut der Böhmischen Brüder, auf Wenzels-Hymne und vertraute Choräle (sind) dezidierte Bekenntnisse zu einer Tradition, der auch seitens der Machthaber nicht widersprochen werden mochte“ (S. 13).
Sehr lesenswert ist Heinemanns einleitendes Kapitel „Das Schicksalsinstrument“. Es beleuchtet den Weg des Komponisten zur Orgel und seine lebenslange enge Beziehung zu diesem Instrument. Ebens Vater stammte aus einer jüdischen, seine Mutter aus einer polnischen Familie, und als der 1929 geborene Petr 1935–39 in der kleinen südböhmischen Stadt Krumlow die Grundschule und das deutsche Gymnasium besuchte, hatte er als Mitschüler viele Mitglieder der Hitlerjugend um sich und war sehr isoliert. Der örtliche Kirchenmusiker führte ihn in das Orgelspiel ein, und schon bald saß der Zehnjährige im Gottesdienst auf der Orgelbank und konnte „in langen Improvisationen Zeit und Raum vergessen: Musizieren, zumal im abendlichen Halbdunkel einer Klosterkirche, kann soziale Defizite kompensieren […]. So konnte die Kirche leicht zum Rückzugsraum werden und die Orgelempore zum Refugium“ (S. 11).
Als 1944 per Gesetz ein Studienverbot für Kinder aus gemischt-
jüdischen Familien erlassen wird, ist ein weiterer Schulbesuch für Petr Eben nicht möglich. Er wird zur Zwangsarbeit verpflichtet und 1945 als 16-Jähriger im KZ Buchenwald inhaftiert, was er glücklichweise überlebt. In diesen schwierigen Zeiten ist die Liebe zur Orgel entstanden und Petr Eben wird sie sich in den schwierigen Nachkriegs-Jahrzehnten – nun unter den umgekehrten politischen Verhältnissen des Kommunismus – bewahren, bis zur politischen Wende und der Erlangung der Freiheit der Tschechischen Republik 1989. In diesem Zusammenhang erklärt Heinemann eine Besonderheit in Petr Ebens Orgelschaffen: dass er nämlich im kommunistischen Land neben der liturgisch gebundenen Orgelmusik immer auch Werke über weltliche Sujets komponierte – ein Balanceakt, den der Herausgeber sehr treffend charakterisiert als „Konzession an ein autoritäres System mit seinen Repressionen, das schon ein Schwejk zu hintergehen wusste“ (S. 13).
Eben knüpft damit auch an die jahrhundertealte Tradition der Orgelmusik in Theater, Zirkus oder Jahrmarkt an – was sollten die Machthaber daran auszusetzen haben? Diesem Umstand verdanken wir ein Werk wie Faust (1979/80), das keine religiöse Thematik hat, sondern „Ausdruck des Mephistophelischen, Abgründigen und Korrumpierten“ ist (S. 13). Dass die Orgel für Eben zum „Schicksalsinstrument“ wurde (der auf den ersten Blick etwas pathetisch anmutende Begriff erweist sich bei genauerem Hinschauen als treffend), ist tief in seiner Biografie und den politischen Umständen verwurzelt, „da dem katholischen Dissidenten im kommunistischen Staat andere Möglichkeiten, sich mittels Musik verständlich zu machen, nicht gegeben waren“ (S. 15).
Dieser Aspekt wird vertieft durch einen religionsgeschichtlichen Beitrag des Slawisten Ludger Udolph, der die schwierige Stellung der Katholischen Kirche in der Tschechoslowakei des 20. Jahrhunderts beleuchtet, sowohl in der Zeit des Nationalsozialismus, als im 1938 errichteten „Protektorat“ Klöster aufgelöst, Ordensleute verhaftet und hingerichtet wurden, aber auch danach: Die Befreiung 1945 brachte für die Katholiken nur eine kurze Atempause, und 1950 wurden sämtliche 18 katholischen Bischöfe verhaftet und die katholische Kirche der Ostslowakei dem Patriarchen von Moskau unterstellt. Das totalitäre System bekämpfte die Kirche. Wer sich zum Katholizismus bekannte, musste ebenfalls kämpfen oder seinen Glauben vorsichtig und im Stillen ausüben. Dies hat Ebens Beziehung zur Orgel- und Kirchenmusik nachhaltig geprägt.
Unter dem Titel „Choral und Folklore“ analysiert Birger Petersen die Melodik und Harmonik der Orgelmusik Petr Ebens und zeigt an klug ausgewählten Beispielen, wie facettenreich sie ist: auf der einen Seite die Verwendung von Gregorianik und Modalität, Quartenharmonik, Mixturklängen, Multitonalität mit Gleichzeitigkeit von Dur und Moll sowie anderen Modi, schließlich eine den ganzen Zwölftonvorrat ausnutzende erweiterte Tonalität; auf der anderen Seite ein „tschechischen Tonfall“: mit Synkopen, stark differenzierter und variierter Rhythmik und häufiger Verwendung des Tritonus. Eben hat die Folklore seiner Heimat studiert, als er 1952 im Auftrag des tschechischen Volksliedinstituts in Brünn 280 Volkslieder sammelte und transkribierte. Dies hinterlässt Spuren in seiner Musik.
Diese lesenswerte Studie gehört in die Bibliothek jedes kirchenmusikalischen Instituts und ins Bücherregal aller an Petr Eben interessierten Organistinnen und Organisten. Dem Verlag gebührt Dank für die vorzüglich mit Notenbeispielen ausgestattete und erfreulich preiswerte Publikation.
Petr Ebens Orgelwerk hat längst einen festen Platz im internationalen Konzertrepertoire, aber abgesehen von der grundlegenden Arbeit Petr Eben. Leben und Werk von Katerina Vondrovicová, 2000 in Mainz bei Schott erschienen, sowie verschiedenen Zeitschriftenartikeln gab es bisher kaum Literatur über Ebens Orgelschaffen. Vondrovicová schrieb ihre Monografie damals in enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten und erreichte so eine große Authentizität, da Eben selbst Werkinformationen und Selbstzeugnisse beisteuerte. Ähnliche Authentizität gelingt Michael Heinemann in der aktuellen Studie, die mustergültig ist in Aufbau, Vielgestaltigkeit des methodischen Ansatzes sowie in der Annäherung an Werk und Wollen eines der großen Orgelkomponisten des 20. Jahrhunderts.
Im Zentrum stehen 35 chronologisch geordnete Werkanalysen zu allen Orgelkompositionen Ebens, knappe Texte von jeweils wenigen Seiten, die dennoch alles enthalten, was zum Verständnis des Werks und seines Entstehungshintergrunds vonnöten ist. Die Analysen sind sehr gut lesbar, verlieren sich nicht in Details und stellen ein kurzgefasstes Handbuch der Orgelmusik Petr Ebens dar.
Ergänzend dazu werden 28 eigene Werkkommentare des Komponisten abgedruckt: Einführungen für Programmhefte, CD-Booklets oder Noteneditionen. So erhält die Publikation den Charakter eines „Readers“ und die Zusammenstellung dieser Originaldokumente ist von großem praktischen Wert. In den für Eben typischen uneitlen und in erstklassigem Deutsch geschriebenen Texten erfährt man viel über Form, Hintergrund und Intention seiner Werke. Auch darüber, wie schwer es der Komponist in den kommunistisch geprägten Jahrzehnten seines Heimatlandes Tschechoslowakei hatte.
Als Beispiel sei Ebens Kommentar zu seinem Orgelkonzert zitiert: „Der Originaltitel des 1. Orgelkonzertes hieß eigentlich ‚Symphonia gregoriana für konzertante Orgel und Orchester‘. Aber weil dieser Titel bei uns in der Vergangenheit Anstoß erregte, musste die Bezeichnung ‚Orgelkonzert‘ benutzt werden. Ich schrieb diese Komposition 1953, als mein erstes Orgelwerk, im Alter von 24 Jahren, in der Zeit der stärksten Verfolgung der Kirche und Verachtung der Orgel. Und so konzipierte ich diese Symphonie als Loblied Gottes und Preis der Orgel“ (S. 139). Mit dem Austausch des Titels entging Petr Eben der Zensur, und Heinemann beschreibt sehr überzeugend, wie es dem Katholiken Eben gelang, seine an Gregorianik und Liturgie orientierten Orgelkompositionen auch in den kirchenfeindlichen Zeiten des Kommunismus zu komponieren und aufzuführen: Die „Bezugnahmen auf das Liedgut der Böhmischen Brüder, auf Wenzels-Hymne und vertraute Choräle (sind) dezidierte Bekenntnisse zu einer Tradition, der auch seitens der Machthaber nicht widersprochen werden mochte“ (S. 13).
Sehr lesenswert ist Heinemanns einleitendes Kapitel „Das Schicksalsinstrument“. Es beleuchtet den Weg des Komponisten zur Orgel und seine lebenslange enge Beziehung zu diesem Instrument. Ebens Vater stammte aus einer jüdischen, seine Mutter aus einer polnischen Familie, und als der 1929 geborene Petr 1935–39 in der kleinen südböhmischen Stadt Krumlow die Grundschule und das deutsche Gymnasium besuchte, hatte er als Mitschüler viele Mitglieder der Hitlerjugend um sich und war sehr isoliert. Der örtliche Kirchenmusiker führte ihn in das Orgelspiel ein, und schon bald saß der Zehnjährige im Gottesdienst auf der Orgelbank und konnte „in langen Improvisationen Zeit und Raum vergessen: Musizieren, zumal im abendlichen Halbdunkel einer Klosterkirche, kann soziale Defizite kompensieren […]. So konnte die Kirche leicht zum Rückzugsraum werden und die Orgelempore zum Refugium“ (S. 11).
Als 1944 per Gesetz ein Studienverbot für Kinder aus gemischt-
jüdischen Familien erlassen wird, ist ein weiterer Schulbesuch für Petr Eben nicht möglich. Er wird zur Zwangsarbeit verpflichtet und 1945 als 16-Jähriger im KZ Buchenwald inhaftiert, was er glücklichweise überlebt. In diesen schwierigen Zeiten ist die Liebe zur Orgel entstanden und Petr Eben wird sie sich in den schwierigen Nachkriegs-Jahrzehnten – nun unter den umgekehrten politischen Verhältnissen des Kommunismus – bewahren, bis zur politischen Wende und der Erlangung der Freiheit der Tschechischen Republik 1989. In diesem Zusammenhang erklärt Heinemann eine Besonderheit in Petr Ebens Orgelschaffen: dass er nämlich im kommunistischen Land neben der liturgisch gebundenen Orgelmusik immer auch Werke über weltliche Sujets komponierte – ein Balanceakt, den der Herausgeber sehr treffend charakterisiert als „Konzession an ein autoritäres System mit seinen Repressionen, das schon ein Schwejk zu hintergehen wusste“ (S. 13).
Eben knüpft damit auch an die jahrhundertealte Tradition der Orgelmusik in Theater, Zirkus oder Jahrmarkt an – was sollten die Machthaber daran auszusetzen haben? Diesem Umstand verdanken wir ein Werk wie Faust (1979/80), das keine religiöse Thematik hat, sondern „Ausdruck des Mephistophelischen, Abgründigen und Korrumpierten“ ist (S. 13). Dass die Orgel für Eben zum „Schicksalsinstrument“ wurde (der auf den ersten Blick etwas pathetisch anmutende Begriff erweist sich bei genauerem Hinschauen als treffend), ist tief in seiner Biografie und den politischen Umständen verwurzelt, „da dem katholischen Dissidenten im kommunistischen Staat andere Möglichkeiten, sich mittels Musik verständlich zu machen, nicht gegeben waren“ (S. 15).
Dieser Aspekt wird vertieft durch einen religionsgeschichtlichen Beitrag des Slawisten Ludger Udolph, der die schwierige Stellung der Katholischen Kirche in der Tschechoslowakei des 20. Jahrhunderts beleuchtet, sowohl in der Zeit des Nationalsozialismus, als im 1938 errichteten „Protektorat“ Klöster aufgelöst, Ordensleute verhaftet und hingerichtet wurden, aber auch danach: Die Befreiung 1945 brachte für die Katholiken nur eine kurze Atempause, und 1950 wurden sämtliche 18 katholischen Bischöfe verhaftet und die katholische Kirche der Ostslowakei dem Patriarchen von Moskau unterstellt. Das totalitäre System bekämpfte die Kirche. Wer sich zum Katholizismus bekannte, musste ebenfalls kämpfen oder seinen Glauben vorsichtig und im Stillen ausüben. Dies hat Ebens Beziehung zur Orgel- und Kirchenmusik nachhaltig geprägt.
Unter dem Titel „Choral und Folklore“ analysiert Birger Petersen die Melodik und Harmonik der Orgelmusik Petr Ebens und zeigt an klug ausgewählten Beispielen, wie facettenreich sie ist: auf der einen Seite die Verwendung von Gregorianik und Modalität, Quartenharmonik, Mixturklängen, Multitonalität mit Gleichzeitigkeit von Dur und Moll sowie anderen Modi, schließlich eine den ganzen Zwölftonvorrat ausnutzende erweiterte Tonalität; auf der anderen Seite ein „tschechischen Tonfall“: mit Synkopen, stark differenzierter und variierter Rhythmik und häufiger Verwendung des Tritonus. Eben hat die Folklore seiner Heimat studiert, als er 1952 im Auftrag des tschechischen Volksliedinstituts in Brünn 280 Volkslieder sammelte und transkribierte. Dies hinterlässt Spuren in seiner Musik.
Diese lesenswerte Studie gehört in die Bibliothek jedes kirchenmusikalischen Instituts und ins Bücherregal aller an Petr Eben interessierten Organistinnen und Organisten. Dem Verlag gebührt Dank für die vorzüglich mit Notenbeispielen ausgestattete und erfreulich preiswerte Publikation.
Rainer Mohrs