Bull, John

Walsingham – Organ & Keyboard Works

Verlag/Label: Dabringhaus und Grimm, MDG 3411258-2
erschienen in: organ 2009/04 , Seite 50

4 Pfeifen

Siegbert Rampe – der vielfach ausgewiesene Kenner (und Editor) „Alter Musik“, hat beim Klassik­label Dabringhaus & Grimm vier CDs mit Clavierwerken von John Bull, Peter Philips und Jan Pieterszoon Sweelinck eingespielt. Diese phonophilen Editionen verdienen allein der Fülle des eingespielten Repertoires wegen – im Falle von Bull und Sweelinck jeweils als repräsentative Florilegia aus ihrem Gesamtschaffen und bei Philips als ein Œuvre intégral – die Aufmerksamkeit des interessierten Fachpub­likums sowie der Orgelliebhaber.
Ein zusätzlicher Reiz bei diesen Veröffentlichungen liegt wohl auch darin, dass sich der Interpret über den wohlfeilen Instrumentenkanon Orgel – Virginal – Cembalo hinaus zweier Clavichorde bedient: und zwar der Kopie eines italienischen, um 1540 entstandenen Clavichords (4’) aus dem Musikinstrumenten-Museum der Universität Leipzig so­wie eines süddeutschen Clavichords (8’) aus dem 17. Jahrhundert; das Original hierzu befindet sich im Museum Carolino Augusteum in Salzburg. Der Klang dieser sehr intimen und klangsensiblen Instrumente ist ungewöhnlich farbig-kraftvoll und auf den vorliegenden Einspielungen wirkungsvoll dokumentiert.
Verwendet wurden weiterhin ein Cembalo (8´+ 4) von Andreas Ru­ckers von 1637 (Sammlung Ulrich Rück, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg) und ein Virginal von Artus Gheerdinck von 1605 (Klavierhistorische Sammlung Neu­pert, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg). Ergänzt wird diese instrumentale Palette von den klang­schönen Orgeln von St. Stephani zu Tangermünde (1623/24: Hans Scherer d. J., rest. 1983/84: Alexander Schuke) und St. Andreas in Ostönnen (ca. 1425 Anonymus, 1586 Meis­ter Bartholdus, 1721/22 Johann Patroclus Möller, rest. 2003 von Rowan West).
Die Aufteilung der eingespielten Literatur auf die vier Instrumenten-Typen folgt gewiss in wesentlichen Teilen subjektiven Kriterien des Interpreten und wäre in Einzelfällen noch näher zu hinterfragen, etwa hinsichtlich der „Instrumentierung“ von John Bulls Liedvariationen Walsingham auf der Orgel oder der Zuweisung einzelner seiner In Nomine-Kompositionen an das Cembalo. Weniger überzeugend ist der Gebrauch von Zungen bei der Interpretation eindeutig in England zu verortender Claviermusik; hier sei wiederum exemplarisch der Variationszyklus Walsingham genannt, obgleich Bull und Philips im flämischen Exil gewiss Orgeln mit mehr oder weniger reicher Zungendisposition kennen gelernt und gespielt haben dürften.
Rampes Interpretationen des in der umbruchhaften Übergangssituation von der Spätrenaissance zum Frühbarock anzusiedelnden Repertoires vermitteln gerade die ihm innewohnende affektgeladene Ambivalenz zwischen kontemplativer Melan­cho­lie und temperamentvoll-vitaler Sinnenhaftigkeit auf eindrucksvolle Weise. Sein solistisches Profil als In­terpret Alter Tastenmusik ist zuvör­derst bestimmt durch seinen rhapsodischen Gestaltungsansatz und spie­lerische Virtuosität. Diese zahlen sich insbesondere in seiner fesselnden Wiedergabe rascher Tanz­sätze und exaltierten liedhaften Variationsfolgen aus. Rampe bedient sich zudem in durchaus angemessener Weise überreicher frühbarocker Verzierungskunst, die, damaliger Aufführungspraxis nur konsequent folgend, weit – bisweilen auch sehr weit – (z. B. in Sweelincks Phan­tasia cromatica) über die quellenmäßig überlieferte (notierte) Ornamentik hinausgeht. Der Wechsel­eigen der verwendeten Instrumente lenkt wohltuend von der sujet- und genregemäß unvermeidbaren stilis­tischen Einförmigkeit der auf diesen vier Tonträgern versammelten Tastenmusik ab. Auf den beiden Clavichorden entwickelt Rampe eine polychrome spielerische Expressivität, welche derjenigen eines versierten Lautenvirtuosen in nichts nachsteht. Andererseits lässt die nachgerade „idiomatisch“ anmuten­de Rhapsodik seines Spiels eine individuelle (einheitliche) Couleur seines „Touché“ erkennbar vermissen (die sodann von entschiedenen Legato- und Staccato-Manierismen als extreme Behandlungsarten der Klaviaturen koloriert werden könn­te). Auch das musikalische Äquivalent zu der in der Theorie barocker Dramenkunst geforderten „Einheit von Zeit und Raum“ kommt bei der Gestaltung längerer Stücke durch Siegbert Rampe (so in Sweelincks Phantasie à 4 P 17) manchmal zu kurz.
Fazit: Fraglos ein brillant dargebotenes Kaleidoskop hochinteressanter und selbst für Musikkundige vielfach unbekannter „Claviermusik“. Der nicht minder engagiert als kompetent zu Werke gehende Interpret vermittelt somit einen lebendigen Eindruck von „Herz und Schmerz“ einer immerhin 400 Jahre zurückliegenden großen Epoche europäischen Musikschaffens.

Wolfram Syré