Antje Becker
Von der Alten Musik zu den alten Instrumenten
Die Schnitger-Pioniere Paul Ruhbardt, Gustav Fock und Hans Henny Jahnn. Orgelhistorische Forschung um 1920/1930
Wie immer die Positionen von Paul Ruhbardt, Gustav Fock und Hans Henny Jahnn innerhalb des nach 1900 verstärkten Interesses an Alter Musik und des Phänomens Orgelbewegung bewertet werden: Seit nunmehr rund 100 Jahren berufen sich Organisten, Orgelbauer, Fachkräfte in der Beratung und nicht zuletzt viele Musikinteressierte auf diese drei Persönlichkeiten als Autoritäten. Unzählige Orgeln wurden mit Verweis auf die Ausführungen und Ansichten dieser Pioniere hin verändert oder neu gebaut; Gustav Focks Buch Arp Schnitger und seine Schule wird nach wie vor als zentrale Quelle genutzt.
Daran zeigt sich unter anderem die Problematik, die nach der Lektüre von Antje Beckers Dissertation deutlich hervortritt. Der Lehrer Gustav Fock konnte seine nebenbei gesammelten Erkenntnisse erst vierzig Jahre später im großen Rahmen veröffentlichen. Leider hatte er die Zusammenarbeit mit dem Musikwissenschaftler Paul Ruhbardt verweigert und auf dessen systematische Grundlagenforschung verzichtet. Der Schriftsteller und Künstler Hans Henny Jahnn hatte zwar ein Gespür für die Bedürfnisse der Zeit, Alte Musik auf authentischen Instrumenten wiederzugeben. Auch an Visionen zur Umsetzung fehlte es ihm nicht, wohl aber an praktischer Kenntnis im Orgelbau, was auch für Fock und Ruhbardt gilt.
Antje Becker zeichnet sehr anschaulich die Lebensbilder dieser drei aus dem Raum Hamburg stammenden Persönlichkeiten mit deren jeweils höchst unterschiedlichem Hintergrund. Belege verdeutlichen ihre Denk- und Arbeitsansätze und ihr Wirken für die damalige Orgelforschung. Der Forschungsgegenstand – die Orgeln von Arp Schnitger und seiner Zeit – war jedoch bereits dezimiert und nur rudimentär erkennbar; dies erschwerte die Recherche naturgemäß und führte daher zu Missverständnissen.
Immer wieder wird die von Hans Henny Jahnn einberufene Tagung für deutsche Orgelkunst in Hamburg und Lübeck („Organisten-Tagung“) von 1925 als Meilenstein der Orgelbewegung beschworen. Dies ist insofern richtig, als der Einladung immerhin rund 150 Interessierte folgten und grundlegende Themen wie Gebläse, Windladen, Traktur und Pfeifenwerk angesprochen wurden. Dass es sich dabei de facto um ein Solo von Jahnn handelte, lässt jedoch an einem wissenschaftlichen Diskurs zweifeln.
Antje Beckers unbestreitbar verdienstvolle Darstellung kommt zu einem verstörenden Ergebnis: Das auch durch Willibald Gurlitt, Albert Schweitzer oder Karl Straube geprägte Gedanken-Gebäude Orgelbewegung erhielt durch die Schnitger-Pioniere theorielastige Schlagseite und steht in vielen Aspekten auf tönernen Füßen. Jahnn und Fock trugen außerdem wesentlich dazu bei, dass die norddeutsche Orgelkunst des 17. und 18. Jahrhunderts für Jahrzehnte zum fast ausschließlichen Maßstab des Denkens in Orgelbau und Orgelmusik wurde. Viele Instrumente und Interpretationen haben darunter gelitten. – Fairerweise bleibt jedoch anzuerkennen, dass ohne die Initiative dieser drei Protagonisten womöglich viel Aufmerksamkeit für Alte Musik und alte Instrumente sowie weitere Substanz der Barockzeit verloren gegangen und viele Fragen nie gestellt worden wären.
Markus Zimmermann