Anton Bruckner

V. Symphonie B-Dur für Orgel solo bearbeitet

von Eberhard Klotz, 3 Bände: Satz 1, Satz 2 und 3, Satz 4 (Finale)

Verlag/Label: Edition Merseburger, EM 1781, EM 1782, EM 1783
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2020/03 , Seite 58

Zum Glück scheint das Interesse an Anton Bruckner (1824–96), sowohl seine rätselhafte Persönlichkeit als auch die Bedeutung seines singulären und innovativen sinfonischen Schaffens betreffend, nahezu ungebrochen, wie beispielsweise ein gerade in die Kinos gekommener Film Anton Bruckner – das verkannte Genie zeigt. Während Bruckner als Komponist zeitlebens um Anerken­nung ringen musste und sich ab den 1870er Jahren ständigen verbalen Attacken wie denen des meinungsmachenden Musikkritikers Eduard Hanslick ausgesetzt sah, war sein Ruf als glänzender Organist, vor allem auf dem Gebiet der Improvisation, unumstritten. Dabei beschränkte sich sein konzertantes Wirkungsfeld nicht nur auf Österreich, Deutschland und die Schweiz, sondern auch in europäischen Metropolen wie Paris und London konn­te er triumphale Erfolge feiern.
Den zeitgenössischen Beschreibungen nach sollen Bruckners Improvisations-Themen denen seiner Sinfonien ähnlich gewesen sein, da­neben verwendete er auch solche von Richard Wagner oder volkstümliche Melodien. Formal gesehen schuf er dabei oft seinen langsamen Sinfoniesätzen ähnliche Gebilde aus dem Stegreif oder extemporierte kontrapunktische Strukturen wie Präludien und Fugen oder gar Doppelfugen. Dabei hatte er offenbar sogar die Größe, sich bei seinem Publikum an Tagen, an denen ihm nach seinem Dafürhalten „nichts Rechtes“ einfiel, zu entschuldigen.
Umso schmerzlicher mutet es daher als Rezipient wie Interpret von Orgelmusik an, dass Bruckner keine bedeutenden Orgelwerke komponiert und seine Improvisationen (wie z. B. W. A. Mozart) hinterher nicht aufgeschrieben hat. Daher ist es absolut nachvollziehbar, dass sich seit etlichen Jahren eine wachsende Zahl von Musikern, meist Organis­ten, darum bemühen, dafür möglichst geeignete Sätze aus diversen Sinfonien Bruckners für dieses Instrument zu suchen und zu arrangieren.
Auf die Gefahren und Probleme, die damit verbunden sind, hat bereits kein Geringerer als Charles-Marie Widor hingewiesen, dessen Name quasi als Synonym für Orgelspiel an sich steht. Widor, der leider zu sehr auf die Orgel reduziert wird und der selbst eine große Zahl an Orchesterwerken hinterlassen hat, war sich dessen absolut bewusst, dass der „Königin der Instrumente“ bei aller Klangfülle und Registervielfalt großer symphonischer Orgeltypen mit ihrem mehr oder weniger starren Orgelton hinsichtlich der klanglichen Flexibi­lität der „echten“ Orchesterinstrumente Grenzen gesetzt sind.
Jeder Arrangeur muss sich also darüber im Klaren sein, dass in Bezug auf orchesterinstrumenten-spezifische Eigenheiten wie z. B. Streichertremoli oder Paukenwirbel etc. bei der Übertragung für ein Tas­ten­instrument sinnvolle Veränderungen vorgenommen und geeignete Substitute gefunden werden müssen, um eine ähnliche musikalische Wirkung zu erzielen, vergleichbar dem Erstellen eines sogenannten Klavierauszugs. Dazu kommt beim Instrument Orgel der begrenzte Tastenumfang hinzu und ebenfalls die Tatsache, dass man im Gegensatz zu einem hundertköpfigen Orchesterapparat eben „nur“ zwei Hände und Füße zur Verfügung hat.
Ein Spezialist auf dem Gebiet der Transkription ist der Organist, Komponist und Musikwissenschaftler Eberhard Klotz, der schon mehrere komplette Symphonien Bruckners für Orgel solo bearbeitet hat. Jetzt ist sein Arrangement der V. Symphonie Bruckners beim Verlag Merseburger erschienen, der Länge des monumentalen, fast anderthalbstündigen Werks geschuldet, aufgeteilt auf drei Bände.
Die V. „Phantastische“ entstand relativ rasch im Anschluss an die IV. sogenannte „Romantische“, mit der Bruckner relativ viel Erfolg hatte, und war wie viele seiner Werke zahlreichen Umarbeitungen unterworfen, teilweise von ihm selbst, allerdings oft auch von anderen Bearbeitern, die der ursprünglichen Gestalt nicht immer zur Besserung verhalfen. So hat Bruckner diese Symphonie zu Lebzeiten selbst nicht gehört, denn bei der Uraufführung durch den Dirigenten Franz Schalk war er wegen angeblicher Unpässlichkeit nicht zugegen. Bruckners Abwesenheit ist aber wohl eher dahingehend zu deuten, dass Schalk, der sich im Grunde um die Verbreitung von Bruckners Werken verdient gemacht hat, etliche willkürliche Veränderungen vornahm und z. B. aus dem angeblich zu langen Finale über 100 Takte herausstrich. Insgesamt stellt die V. Symphonie im Schaffen Bruckners einen markanten Punkt in seiner Entwicklung zum Spätstil dar.
Um es gleich vorwegzunehmen: Eberhard Klotz ist hier eine großartige Arbeit gelungen! Die orches­trale Originalgestalt ist klug und kompetent umgesetzt, wobei auf Registriervorschläge in der Regel verzichtet wird und stattdessen die Orchesterinstrumente angegeben sind, so dass der Interpret sich beim Registrieren je nach Möglichkeiten des Instruments seine eigenen Farben mischen kann.
Die dynamischen und artikulatorischen Bezeichnungen der Partitur sind dankenswerterweise in den sehr gut lesbaren Notensatz mit eingegangen. Allerdings darf auch nicht verschwiegen werden, dass man sich mit dieser Musik und den internen komplexen Vorgängen sehr intensiv beschäftigen sollte, bevor man damit an die Öffentlichkeit tritt, verlangt das Werk nicht nur wegen seines monumentalen Ausmaßes dem Interpreten hinsichtlich der geis­tigen Leistungsfähigkeit wahrlich Erhebliches ab. Aber selbst wenn man nicht an eine Aufführung der Transkription denkt, ist auch das private Studium zu Hause ein großer Gewinn. Die planvolle, großflächige Konstruktion der Sätze, gepaart mit permanentem motivischen und stimmführungstechnischem Einfallsreichtum, die „registerähn­liche“ Behand­lung der verschiedenen Instrumentengruppen sowie die großartigen harmonischen Über­raschungen sind eine stetig inspirierende Quelle an musikalischer Freude.
Und so ergeben sich für diese Edition vielfältige Nutzungsmöglichkeiten: eine Bereicherung des symphonischen Orgelrepertoires, eine gute Option zum Studium der inneren Strukturen des sinfonischen Kosmos’ Anton Bruckners – und schließlich auch eine Ideen-Fundgrube zur Improvisation.
In unserer Zeit der Bild- und Ton-Konserve und dem damit verbundenen Perfektionsanspruch besteht die Gefahr, dass die Impro­visation zugunsten der notierten Komposition immer mehr zurückgedrängt wird. In den meisten Orgelkonzerten wird fast ausschließlich Literatur gespielt und, wenn überhaupt, nur am Schluss improvisiert. Vielleicht macht die Beschäftigung mit Bruckners sinfonischer Kosmologie in dem Wissen, dass es hier eine wichtige Verbindung mit seinen Orgelimprovisationen gibt, den Mut, dieses Verhältnis einmal umzukehren.

Christian von Blohn