Claudio Merulo (1533–1604)

Toccate d’Intavolatura d’Organo

Libro Secondo für Orgel (oder Cembalo), Rom 1604 (= Frutti Musicali, hg. von Jolando Scarpa)

Verlag/Label: Urtextedition Edition Walhall, EW1224
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2022/04 , Seite 58

Die sehenswerte Kleinstadt Correggio in der Emilia-Romagna ist der Geburtsort zweier herausragender Künstler: des Renaissancemalers Antonio Allegri (1489–1534), kurz Correggio genannt, und des Orgelvirtuosen Claudio Merulo, der ein Jahr vor dem Tod jenes berühmten Malers geboren wurde. Im zweisprachigen Vorwort zur Notenausgabe sind über seine Ausbildung und stilistische Einflüsse Merulos nur vage Vermutungen angeführt.
Nach seiner ersten Stelle an der Kathedrale von Brescia bewarb er sich 1557 (im Vorwort irrtümlich 1567!) am Markusdom in Venedig um die Position des zweiten Organisten neben Annibale Padovano, dessen Nachfolger er 1565 wurde. Damit begann auch eine intensive kompositorische und editorische Tätigkeit nicht nur eigener Werke, was ihm wegen häufiger nicht adäquater Dienstvertretungen offizielle Rügen eintrug. 1584 (1591 im Vorwort) verließ Merulo Venedig, um in Parma an der Basilika Steccata eine Organistenstelle im Dienste der Farnese anzutreten. Kurz vor dem Lebensende veröffentlichte er 1604 in Rom sein zweites Buch der Toccaten und fertigte eigenhändig die Kupferplatten für den Druck an. Da diese weitgehend fehlerfrei sind, erübrigte sich für den Herausgeber Jolanda Scarpa ein kritischer Bericht.
Von den beiden Toccatenbüchern bestehen bereits qualitativ hochwertige Ausgaben von Sandro dalla Libera (Ricordi 1958) und Umberto Pineschi (Vigor Music 2000). Deshalb ist eine Neuausgabe, deren Notwendigkeit nicht näher erläutert wird, ein verlegerisches Risiko. Die von Jolanda Scarpa begleitete vorbildliche Edition in gewohnt übersichtlicher Notengrafik bietet auch keine negativen Überraschungen: Das achtlinige Notensystem der Unterstimmen wird mit zusätzlichen Hilfslinien übertragen; wenige gestrichelte Bögen und kleine Sicherheitsvorzeichen sind die einzigen editorischen Eingriffe bei der Übertragung. Nahezu selbstverständlich ist, dass originale Balkierungen konsequent übernommen wurden. Was diese Edition zusätzlich besonders interessant macht, ist eine Faksimileseite der Toccata Prima, während die Disposition der 1778 vergrößerten Antegnati-Orgel von 1574 leider nicht mitgeteilt wird.
Die Sammlung ist eine Fortsetzung des Libro Primo und enthält ebenfalls zehn Toccaten für die Psalmtöne V–X, die jedem Kirchenton je zwei Toccaten zuordnet. Die Toccaten leben von einer abwechslungsreichen Verteilung der eher kleinteiligen Figuration zwischen Ober- und Unterstimmen, die gelegentlich auch in die Mittelstimmen wandert, und homophonen Partien, die oft in weiter Lage gesetzt sind. Imitation ist selten und erfolgt dann in enger Einsatzfolge. Wenn bei der Interpretation die Halbe als Grundschlag genommen und halbtaktig artikuliert wird, bieten diese Toccaten erhebliche spieltechnische Herausforderungen, die auf den extrem leichtgängigen italienischen Originalinstrumenten mit ihren Drahtwellaturen aber durchaus realisierbar sind.

Josef Miltschitzky