Antonio de Cabezón

Tientos, Diferencias y Glosadas

Léon Berben an der Gotischen Orgel (1425/30) von St. An­dreas in Soest-Ostönnen

Verlag/Label: SACD, Aeolus AE–11171 (2018)
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/01 , Seite 59

5 von 5 Pfeifen

Für die Orgel der Soester Kirche Alt St. Thomae sind weder Erbauer noch Baujahr überliefert; dendro­chronologische Untersuchungen konnten für die ältesten Teile der Windlade ein Fälldatum um 1410 ermitteln: Die ursprüngliche Orgel ist demnach zwischen 1425 und 1430 erbaut worden. Da immerhin noch 326 der insgesamt 528 klingenden Pfeifen des Instruments typische Merkmale gotischer Pfeifen (wie etwa der geringfügig abnehmende Verlauf der Weitenmensur im Diskant) aufweisen und zudem aus nahezu reinem Blei gefertigt sind, handelt es sich bei diesen Pfeifen wohl um die ältesten noch funktionierenden der Welt. Die Wind­lade – ursprünglich vermutlich als Blockwerk konzipiert – wurde wohl 1586 (!) auf Schleiflade umgerüstet. Weitere Umbauten erfolgten nach einer Translozierung durch Johann Patroclus Möller in die St.-Andreas-Kirche des Soester Stadtteils Ost­önnen, vor allem aber durch Hermann Dreymann im Jahr 1824. Die Restaurierung Rowan Wests (2001–
2003) macht alle Eingriffe des 20. Jahrhunderts – so die Arbeit Paul Otts um 1962 – rückgängig: Das Instrument in Soest-Ostönnen ist so eine bemerkenswerte Zeugin des Klangs vergangener Jahrhunderte.
Dass Léon Berben auf diesem Instrument Musik des großen spanischen Komponisten Antonio de Cabezón (ca. 1510–66) eingespielt hat, ist nicht nur mit dem Umstand zu erklären, dass eine Orgel wie das Instrument in Ostönnen einen guten Ausgangspunkt bilden kann für eine Musik, die doch immerhin gut hundert Jahre jünger ist: Die Tientos Cabezóns erscheinen in ihrer Schlichtheit auf den ersten Blick wie „unfertig“ – wie Improvisations­vorlagen, die als Entwürfe noch des Eingriffs durch den Interpreten bedürfen, der sie vollendet. Kompositionstechnisch deutlich wird dieses Bedürfnis in dem Umstand, dass Cabezón selbst eine ganze Reihe von „Glosadas“ benannten Intavolaturen verfasst hat, die mehrstimmige Vokalwerke etwa Gomberts oder de Rores auf die Orgel übertragen. In Berben finden die Kompositionen Cabezóns ihren Meis­ter: Die höchst entwickelte Spielkultur – im besten Sinn, nämlich auf dem Boden der historisch informierten Aufführungspraxis – dient hier zur Belebung eines spröde wirkenden Repertoires, dessen Expressivität selten so deutlich wird wie an der Orgel aus der westfälischen Gotik.
Das hervorragend bebilderte Booklet informiert nicht nur ausführlich zum Programm, sondern auch zur Orgel und enthält ein so informatives wie ungewöhnliches Interview des Interpreten, der – als Fragender, nicht als Befragter! – mit dem Orgelexperten Koos van de Linde den Kontext des Instruments in Ostönnen diskutiert. Die Aufnahmetechnik vermag den räumlichen Eindruck in der St.-Andreas-Kirche bemerkenswert gut und natürlich einzufangen.

Birger Petersen