The Orgelbüchlein Project

A 21st-century completion of Bach’s Orgelbüchlein / Eine neu vervollständigte Fassung von Bachs Orgelbüchlein - Vol. 4: Christliches Leben und Wandel (Choräle 87–113)

Verlag/Label: Edition Peters, EP 73145
erschienen in: organ 2018/02 , Seite 54

So mancher, der sich als Interpret mit dem Œuvre Johann Sebastian Bachs intensiver beschäftigt hat, wird wohl mehr als einmal darüber enttäuscht gewesen sein, dass jener sein Orgel-Büchlein, vermutlich geschrieben in seiner (zweiten) Weimarer Zeit, wohl zwischen 1713 und 1716, nicht komplettiert und von den ursprünglich 164 projektierten Orgel-Chorälen letztendlich nur 46 (BWV 599-644) entsprechend elaboriert hat.
Das Diminutivum "Büchlein" im zweiten Wortbestandteil des originalen Werktitels sollte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hierbei um ein Opus von zentralem Rang innerhalb des schöpferischen Gesamtkorpus des späteren Leipziger Thomaskantors handelt, bietet dies doch ein umfassendes und in seiner Art gänzlich singuläres didaktisches „Lehrkompendium“ sui generis mit Blick auf Bachs organistische Satzfaktur, zeittypische Improvisationsprinzipien und Spieltechnik – vor allem auch hinsichtlich des obligaten Pedalgebrauchs (vgl. Zitat aus dem originalen Subtitel: „… das Pedal gantz obligat tractiret wird.“).
Die Einzelsätze der Sammlung verbindet demgemäß ein außergewöhnlicher gestalterisch-künstlerischer Anspruch und die Idee der Verwendbarkeit sowohl im (reformatorischen) Gottesdienst als auch im Instrumental- und Kompositionsunterricht. Als kennzeichnend für Bachs Orgelchoralsätze in seinem Orgel-Büchlein bezeichnet der Bach-Forscher Christoph Wolff „dichte motivische Struktur und kontrapunktisches Raffinement (bis hin zum strengen Kanon) in Verbindung mit einer kühnen und ausdrucksstarken musikalischen Sprache sowie subtiler musikalisch-theologischer Textausdeutung. Jeder Satz erzielt proportionales Gleichgewicht, indem sich Manual- und Pedalstimmen elegant zu einer mustergültigen Orgelpartitur verbinden.“
Im Orgel-Büchlein blicken wir nicht allein in die „Kompositionswerkstatt“ des quasi vollendeten, musikalisch und stilistisch gereiften J. S. Bach, sondern halten mit dem Manuskript von insgesamt 92 Blättern sogar eines seiner umfang­reichs­ten Autographe von Orgelmusik in Händen.
Schon viel ist darüber spekuliert und geschrieben worden, weshalb Bach später keinen ernsthaften Versuch mehr unternommen hat, das Werk intentionsgemäß zu komplettieren. War dieses Sujet etwa durch seine neuen Aufgaben als Kapellmeister am Hof zu Anhalt-Köthen aus seinem Blickfeld gerückt – die Aufgabenstellung zu diesem Zeitpunkt quasi schon als historisch überholt zu betrachten? Betrachtete Bach diese cantus-firmus-gebun­de­ne, mithin liturgiebezogene „Minia­­turform“ für die Orgel nach Durchführung verschiedenster Bearbeitungstechniken gar als musikalisch ziemlich ausgereizt?
Umso famoser in diesem Zusammenhang mutet das Unterfangen des The Orgelbüchlein Project an, bei dem unter der Ägide von namhaften Musikern wie Paul McCreesh, Dame Gillian Weir und einer Reihe von Theologen und Wissenschaftlern, gefördert von der Europäischen Kommission, vor einigen Jahren damit begonnen wurde, die Blanko-Seiten der vakanten Choräle innerhalb der Sammlung mit neuen Kompositionen zu füllen. Dabei wurde generell auf zweierlei Art verfahren: In der „Orgelbüchlein Community“ konnte eine jede und ein jeder eigene Opuscula einreichen, die nach entsprechender fachlicher Durchsicht auf die Webseite des Projekts gestellt wurden. Zugleich hat man Choräle als Kompositionsaufträge an eine größere Anzahl, zum Teil prominenter, OrganistInnen und KomponistInnen vergeben.
Das erste gedruckte Ergebnis, das mit den Melodien Nummern 87 bis 113 aufwartet, welche man unter dem thematischen Oberbegriff „Christliches Leben und Wandel“ subsumieren könnte, liegt nun als „Band 4“ vor, herausgegeben von William Whitehead. Da den KomponistInnen im Vorfeld keinerlei stilistische Vorgaben gemacht wurden, außer sich hinsichtlich Länge und Faktur des Orgel-Solostücks mit Pedal an der Bachischen Vorlage selbst zu orientieren, ist hier eine höchst interessante Kompilation an vielfältigsten, teils überraschenden Ideen und Herangehensweisen he­raus­gekommen: von der barocken Stilkopie, auch an das Orgel-Büchlein konzeptionell angelehnter späterer Kompositionen wie der Elf Choralvorspiele op. 122 von Johannes Brahms, Reminiszenzen an den französischen Post-Impressionisten Maurice Duruflé bis hin zu avancierten modernen Techniken wie minimalistischen oder seriellen Ansätzen, einer sich am Jazz orientierenden Idiomatik und vielen anderen Typika des 20. Jahrhunderts, die ihrerseits Bachs spätbarocke Klangwelt explizit verlassen.
Begleitet von einem kritischen Kommentar, der die Quellenlage musikphilologisch nochmals knapp darlegt und Bachs eigene Choralvorspiele beleuchtet, bietet sich dem Interpreten hiermit eine Sammlung von teils im originären Sinne „neuer“ Orgelliteratur dar, welche Bachs Orgel-Büchlein auf eine sinnreiche und polychrom-vielfältige Weise erweitert und am Ende auch zu einer spannenden Neu- und Nachbetrachtung der Bach’schen Originalvorlagen anregt.
Inzwischen sind etliche der Neuschöpfungen konzertant aufgeführt bzw. auf Tonträger eingespielt worden. Ausführlichere Informationen hierzu gibt es auf der Website des Projekts: www.orgelbuechlein.co.uk.
Insgesamt eine grandiose Idee. Auf das nächste der insgesamt sechs annoncierten Volumes darf man gespannt sein!

Christian von Blohn