The Organ Music of Gerre Hancock

Verlag/Label: 2 CDs, Raven OAR-951 (2014)
erschienen in: , Seite 60

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Gerre Hancock (1934–2012) gilt als einer der profiliertesten US-amerikanischen Organisten in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Sein Name galt über 33 Jahre als Syno­nym für eine qualitativ stets herausragende kirchenmusikalische Aktivität an der New Yorker Saint Thomas Church in der Fifth Avenue in Manhatten. Und während dieser Zeit waren es vor allem seine Orgelimprovisationen, die ihm einen nachgerade legendären Ruf als ambitionierter Instrumentalist auf diesem Gebiet eintrugen.

Früh kam der 1934 Geborene mit der Kirchenmusik in Berührung, erhielt mit zehn Jahren ersten regelmäßigen Orgelunterricht. Später studierte Hancock an der University of Texas in Austin sowie am Theological Seminary in New York. Weitere Studien, vor allem auf dem Gebiet der Improvisation, führten ihn ins alte Europa nach Paris zu Nadia Boulanger und Jean Langlais, aber auch zu Marie-Claire Alain (Literaturspiel). Von 1971 bis 2004 versah Hancock seinen kirchenmusikalischen Dienst an Saint Thomas in New York, wo unter seiner Stabführung auch die jährliche Aufführung von Händels Messias mit Barockinstrumentarium Kultstatus erlangte. Zudem unterrichtete er an der University of Cincinnati, der Juilliard School (New York), der Eastman School of Music (Roches­ter) und der Elite-Univesität Yale (New Haven). Im Januar 2012 verstarb der von Organistenverbänden und (kirchen-)musikalischen Ausbildungsstätten mit Ehrungen überhäufte Musiker im Alter von 77 Jahren.

Viele der hier eingespielten Werke erklangen beim feierlichen Requiem in Saint Thomas, gespielt an „seiner“ innig geliebten Orgel. Die vorliegende Doppel-CD mag man insofern als authentisches Orgelvermächtnis Hancocks werten, zumindest was die Wahl des Instruments betrifft. Das viermanualige Werk, das im Ursprung auf ein Instrument von Skinner aus dem Jahr 1913 zurückgeht, kommt auch nach mehrmaligen Umbauten an nordamerikanischen Superlativen gemessen zwar noch immer vergleichsweise „bescheiden“ daher, erfüllt aber – zumindest was den Höreindruck betrifft – alle klanglich-stilistischen Voraussetzungen, die man an ein großes „Kathedral-Instrument“ jener Epoche stellen mag: ein farblich reich abgestuftes Dispositionsspektrum, solide fundierte und zugleich facettenreiche Grundtönigkeit, ein kraftvolles Plenum, erlesene (Solo-)Zungen, nicht zuletzt eine schmetternde, das Tutti mühelos übertönende Trom­pette en Chamade. Dass es dieses Instrument schon bald nicht mehr geben wird, mag den dokumentarischen wie audiophilen Wert der CD bereits jetzt zusätzlich erhöhen: Unter Verwendung einiger der vorhandenen Register soll spätes­tens 2017 ein 100-Register-Opus der Firma Dobson ihren Platz einnehmen.

Was das eingespielte Repertoire betrifft, so wird schon beim ersten Hören klar, dass Gerre Hancock kein vordergründig blendender, seine stupende eigene Virtuosität selbstverliebt zur Schau stellender Musiker war. Wenn auch vielfach aus Improvisationen entstanden, sind seine Orgelstücke, die auch kontrapunktisch durch raffinierte Stimmführung überraschen, formal klar strukturiert und bestens proportioniert. Dies macht die Qualität seiner Orgelmusik aus, verleiht ihr jenseits bloßer postromantischer Klangsinnlichkeit – ein entsprechendes Instrument vorausgesetzt – Tiefe und (liturgischen) Ernst. Was mit ein Grund dafür sein mag, warum bis heute nur wenige der hier eingespielten Werke den Weg ins Orgel-Repertoire gefunden haben, und dies trotz meist „gefälliger“ Tonalität.

Höchstes Lob geht an Todd Wilson (und auch Kevin Kwan) für die technisch wie spielerisch insgesamt makellosen Einspielungen. Als profunder Kenner von Hancocks Orgelstil weist er mit seinem beseelten Spiel der Musik seines ehemaligen Lehrers den ihr gebührenden Platz zu. Diese Doppel-CD ist weit mehr als nur oberflächlich sentimentales „Gedenken“, sondern eine mustergültige musikalische Würdigung par excellence.

Wolfgang Valerius