Charles-Marie Widor

Symphonie Romane op. 73

Ausgewählte Orgelwerke, hg. von Georg Koch

Verlag/Label: Urtext Carus 18.180
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2022/04 , Seite 57

Charles-Marie Widors letzte Orgelsymphonie ist während seines Sommerurlaubs 1899 nach mehrmonatiger Ausarbeitungszeit vollendet worden. Wie in der fünf Jahre zuvor entstandenen Symphonie Gotique liegt ihr ein gregorianisches Thema zugrunde. Das Ostergraduale „Haec dies“, mit dessen Ausarbeitung sich Widor, nach Aussagen seines Schülers Marcel Dupré, über ein Jahr beschäftigt hatte, bevor er die Komposition dieser zyklischen Ostersymphonie begann, bildet ihr Hauptthema.
Widor sah sich immer wieder mit dem Problem konfrontiert, den freien Duktus der gregorianischen Weise in die gebundene rhythmische Struktur einer spätromantischen symphonischen Schreibweise einzupassen. Ebenso ist die Symphonie Romane in harmonischer Hinsicht in ihrer Affinität zur Tonsprache Richard Wagners einzigartig. Widor löst das Problem durch eine ausgesprochen arabeskenhafte, oft in den Tonbewegungen durchbrochene Struktur und schafft damit unüberhörbar eine musikalische Brücke zur Musik seines Antipoden und Erzfeindes Charles Tournemire. Widor schreibt selbst: „Ganz anders ist das ,Haec dies‘, eine elegante Arabeske, die einen Text von nur wenigen Worten schmückt – mit etwa zehn Noten pro Silbe – eine Vokalise, ungreifbar wie der Gesang eines Vogels, als eine Art Orgelpunkt für einen uneingeschränkten Virtuosen entworfen.“ Ihre Überschrift „Ad Memoriam Sancti Saturnini Tolosensis“ (Zum Gedächtnis des heiligen Saturnin von Toulouse) bezieht sich auf die großartige romanische Basilika St. Sernin in Toulouse und ihre fantastische Cavaillé-Coll-Orgel. Albert Schweitzer schreibt über das Werk: „… als er an einem Maisonntag, mit dem Technischen noch ringend, das Finale der Romanischen Symphonie zum ersten Mal zu St. Sulpice spielte, da fühlte ich mit ihm, dass in diesem Werk die französische Orgelkunst in die heilige Kunst eingegangen, jenem Tod und jene Auferstehung erlebt hatte, die jede Orgelkunst, und in jedem Individuum, erleben muss, wenn sie Bleibendes schaffen will.“ Die mutmaßlich erste Gesamtaufführung spielte Widor selbst Anfang Januar 1900 übrigens in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin.
Die vorliegende Carus-Ausgabe, besorgt von Georg Koch, lässt keine editorischen Wünsche offen. Die Quellen dieser Ausgabe sind das eigenhändige Autograph Widors aus der BNP, MS 20825, die Erstausgabe Hamelle 1900 mit Eintragungen Albert Schweitzers, ein Abdruck des 3. Satzes einer Sammlung bei Schott (1906–09) und die Hamelle-Ausgabe nach 1930. Ein ergiebiges Vorwort des Herausgebers zur Biografie Widors, zu Orgelbau und Orgelmusik in Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu Widors Orgelsymphonien und ihren Bezug zur französischen symphonischen Orgel, zur Interpretation und zur Symphonie selbst steht der Ausgabe voran. Auch Widors eigene Anmerkungen sind abgedruckt.
Ein Hinweis zur sachgerechten Übertragung der oft kryptischen Angaben Widors (im Verlauf ausschließlich dynamische Angaben, die aber adäquat registriert werden müssen) zur Registrierung in den Ecksätzen auf eine moderne (deutsche) Orgel wäre wünschenswert gewesen. Der Notensatz ist tadellos, übersichtlich und klar, Anmerkungen sind im Notensatz erkennbar, aber nicht verwirrend und die Wendestellen geschickt. Der Kritische Bericht, der die Edition abschließt, ist akribisch und hilfreich. Insgesamt eine sehr gute Ausgabe, die dieses Meisterwerk einer Vielzahl von begeisterten Interpreten erschließen wird.

Stefan Kagl