Jacques Boyvin (ca. 1649–1706)

Suites from the Premier and Second livres d’orgue

Verlag/Label: 2 CDs, Nimbus Alliance, NI 6358 (2018)
erschienen in: organ 2018/02 , Seite 58

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Obwohl Boyvin – gebürtig in Paris, seit 1674 Organist der Kathedrale von Rouen – zwei Livres d’orgue veröffentlicht hat (1690 und 1700: jeweils acht Suiten über die Kirchentöne), gehört er zu den bis heute sträflich vernachlässigten Repräsentanten des französischen Orgelbarock; Johann Gottfried Walther ko­pierte um 1714 bereits handschriftlich Dandrieu, d’Anglebert, Nivers, Clérambault, Lebègue und französische Cembalisten [Staatsbibliothek Berlin, P 801], nicht jedoch Boyvin. Die CD bietet eine Auswahl der Suiten 1, 2, 5–7 und (Second Livre) 1, 3–5.
Der (hier nicht originale) Begriff „Suite“ bezieht sich auf eine Reihung von rund acht bis zehn kurzen Einzelsätzen, z. B. Suite 1: „Grand plein jeu“, „Fugue grave“, „Récit de cromhorne“, „Concert pour les Flut­tes“, „Trio“, „Fond d’orgue“, „Duo“, „Tierce en taille“, „Trio à 2 dessus“, „Basse de Trompette“, „Grand dialogue“. Es geht um die Präsentation jeweils charakteristisch eigengeprägter Miniaturen, absolut kontrastreich in Bezug auf satztechnische und klangfarbliche Dessins (unterschiedlicher charakteristischer Orgelregis­ter) hin angelegt, in überschaubarer Länge bestimmt für konzentrierten liturgischen Einsatz, alltäglichen alternatim-praktischen Gebrauch („à l’usage ordinaire de l’église“).
Der intendierte Praxisbezug ist allgegenwärtig; neben der angenehmen Kürze (bzw. Länge) gibt der Komponist feste Klangmuster vor (Registermischungen, meslanges des jeux), die er im „Auis au Public“ (Mitteilung an die Leser) ebenso ausführlich erläutert wie weitere aufführungspraktische Details (toucher, mouvements, agréments, cadences ou tremblements, pincements, coulez, port de voix, mit Notenbeispielen). Nichts bleibt dem Zufall überlassen, Boyvin interpretieren heißt: einen bis ins Letzte definierten und elaborierten Klang, spielerische Disziplin, und trotzdem spielerisch „freie“ Eleganz, Farbigkeit und Kontraste zu gewährleisten.
David Ponsford – britischer Organist, Cembalist, Musikologe, Dirigent in Cambridge, Wells, Bristol, Cardiff – meistert die speziellen Anforderungen der Orgelmusik Boyvins mal in wohltuender Ruhe und Kraft, mal lebhaft und agil, stets den frankophonen „Kathedraleffekt“ souverän beherrschend. Er ist spezialisiert auf „French Organ Music from the Golden Age“ und präsentiert nach Couperin, Raison, Clérambault, Nivers, Grigny nunmehr Boyvin als Volume 6 seiner Tonträger-Reihe.
Dabei greift er auf ein für diesen speziellen Zweck recht geeignetes Instrument zurück: die Orgel von Saint-Michel in Bolbec nahe Rouen (Normandie, Frankreich). Trotz abenteuerlicher Baugeschichte bis 1791 kann stilistisch eine adäquate Nähe zu Boyvins Klangvorstellungen seriös unterstellt werden. Sehr dankbar muss man noch heute dem unbekannten Orgelbauer sein, der die ursprünglich zweimanualige Or­gel (1630/31; 8’ Grand Orgue, 4’ Positif; Pédale) auf spielerfreundlichste vier Manuale (ca. 1750; Récit, Echo, wenn auch statt 48 mit nur 25 und 37 Tasten) erweitert hat. Mithin wird das Spiel sowohl vielfarbiger filigraner Klanglinien als auch kompakter Akkordballungen stilgerecht ermöglicht.

Klaus Beckmann