Ann-Helena Schlüter

Stille och Snö

10 neue schwedisch-deutsche Orgelwerke

Verlag/Label: Heinrichshofen & Noetzel 2725
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2021/03 , Seite 56

Sollte die Komponistin den Sammeltitel tatsächlich so hybrid gewählt haben wie gedruckt („Stille“ in deutsch, „Schnee“ in schwedisch), um ihre bilinguale Bindung zu dokumentieren, so wäre ihr zu sagen: arg gewollt! Und wozu englische Werktitel innerhalb erklärtermaßen schwedisch-deutscher Orgelstücke? Ein Zugeständnis an die weltweite Anglophilie?
Doch zum Eigentlichen, der Musik. Erfreulich, dass sich Ann-Helena Schlüter einer Gattung widmet, die nicht ins Großdimensionierte abhebt und ausgepichte Virtuosität verlangt, sondern die poetische Empfänglichkeit anspricht, wäh­rend sich die spieltechnischen Anforderungen in Grenzen halten, ohne den Profi zu langweilen. Weshalb sich das Charakterstück, von dem hier die Rede ist, über Epochen hinweg fortpflanzte: In die Welt gesetzt von den barocken Clavécinis­ten, führte es über Schubert, Schumann Grieg bis zu Brahms, Reger und Schönberg und in Frankreich zu Debussy, Ravel und Satie.
Was nun das artverwandte Orgelstück (nichtreligiösen Inhalts) betrifft, so wäre an die Franzosen Jehan Alain, César Franck, Marcel Dupré und Louis Vierne zu denken, ferner an den Belgier Flor Peeters. Doch auch Max Reger und Hugo Distler widmeten sich ihm – wobei die Möglichkeiten und Grenzen nichtprofessionellen Orgelspiels nicht immer Rücksicht fanden.
Ann-Helena Schlüter hat sich mit ihren Stücken beides vorgenommen: den Charakter schwedischer Landschaften zu treffen und den (singenden) Tonfall ihrer Menschen aufzunehmen, auch die Schwermut der langen dunklen Winter und die Ausgelassenheit der lichten „Beerensommer“ samt ihrer zwiespältigen Sehnsucht nach Freiheit und Geborgenheit – und zugleich nicht allzu schwierig aus- und aufführbar zu sein, geeignet sowohl für den Konzertvortrag als auch für den Unterricht. Ein Spagat, den sie offenbar unangestrengt gewann.
Womit sie sich als Meisterin des lyrischen Aphorismus einführt, auch wenn sie manchmal die Nähte des Charakterstücks sprengt. Beginnend mit Lugn (Ruhe), einem sanften Gleichmaß zur Mitte hin sich verdichtender Achtel- und Sechzehntelfiguren, die sich gegen Ende wie­der lockern und in eine freie Kadenz ausschwingen, das Ganze auf langgezogenen Pedaltönen ruhend, führt die Schwedenreise über das geheimnisvolle Schneestück Snö für Klavier oder Orgel manualiter – einem Gestöber zugespitzter, luftig tänzelnder Akkordkristalle – zu Längtan, einem takt- und tempowechselnden Abbild jener seltsam zwiefältigen Sehnsucht, die sich schließlich ins Vage verliert.
Auch die Stille hat zwei Gesichter, wiewohl sie einander ähneln: Stille und, vierhändig, Silence schreiten beide in würdevoller Gelassenheit. Zweigesichtig auch ihr erregter Gegenpol: Nun. Panik! für Orgel und Steppschuhe (ein oder zwei Personen) und Orgelmania für ameisenflinke Finger – Klangszenen extremer Seelenzustände, letztere tanzbesessen in die Länge getrieben, das Wesen des Charakterstücks ad absurdum führend. Unter dem vieldeutigen Titel Jeden Augenblick verabschiedet sich die Sammlung flötenzart raunend – diesmal wieder tonartgebunden wie das Eröffnungsstück, während die Mehrzahl der Stücke tonal eher freischwebend wirken.

Lutz Lesle