Hugo Distler
Sämtliche Schriften
Band 1: Texte und Kommentare / Band 2: Funktionelle Harmonielehre (Reprint), hg. von Sven Hiemke
Diese Edition ist nicht hoch genug zu loben! Endlich liegen alle veröffentlichten Texte Hugo Distlers gesammelt in einer auch optisch und haptisch sehr ansprechenden Ausgabe vor. Nun kann man sich ein umfassendes Bild der Texte Distlers machen, ohne auf verkürzte Zitate oder gerüchteweise überliefertes Material zurückgreifen zu müssen.
Distler war der wohl bedeutendste Komponist der kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung. Seine Werke haben bleibende Bedeutung, und gerade seine wenigen größeren Orgelwerke (die beiden Orgel-Partiten, die Triosonate und das „Spielbuch“) gehören zum Bedeutendsten, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Orgel komponiert wurde. Allein deshalb lohnt sich für alle Orgelliebhaber ein Blick in dieses wichtige Buch.
Vor allem eine Orgel steht in mehreren Texten im Mittelpunkt: die berühmte historische Stellwagen-Orgel in St. Jakobi zu Lübeck, an der Distler selbst gewirkt hat und für deren Restaurierung und Erhalt er in vielen seiner Texte (und Briefe!) inständig wirbt und diese ausführlich beschreibt. Es ist interessant zu sehen, wie Distler durch Schilderung des Klangs dieser herausragenden Orgel gleichzeitig indirekt sein kompositorisches Ideal charakterisiert.
Die Edition gliedert sich in I. Rezensionen, II. Zeitschriftenartikel, III. Pressemeldungen und Veranstaltungsankündigungen, IV. Vor- und Nachworte, V. Libretti, VI. Programmschrift zum Orgelumbau und VII. Funktionelle Harmonielehre. Letztere wird als zweiter Band im Querformat als auch im altertümlichen Schriftbild unveränderter Reprint mitgeliefert – das ist vielleicht das einzige Manko dieser Ausgabe. Distler-Bücher der älteren Vergangenheit krankten des Öfteren daran, dass sie durch Auslassungen, Umdeutungen bis hin zu Verharmlosungen den Komponisten teils als eine Art Märtyrer darstellten. Der schillernden Person Distlers und vor allem seinem Schaffen haben diese Publikationen auf Dauer eher Schaden zugefügt. Wer Distler heute pauschal in die „rechte Ecke“ stellt, wird der Sache andererseits auch nicht gerecht. Es lohnt, bei Distlers Musik immer genau hinzuhören und bei seinen Texten sorgsam hinzuschauen und exakt zu lesen. Genau dies ermöglicht die Gesamtschau von Distlers Schriften, die gleichzeitig wichtige Zeugnisse aus der dunkelsten Zeit Deutschlands sind. Der hervorragende Kommentar des Herausgebers Sven Hiemke schafft es vortrefflich, Dinge in ihren Zeithorizont einzuordnen und Ambivalenzen aufzuzeigen, ohne vorschnell zu (ver-)urteilen. Nach der Lektüre dieses Bandes (inkl. seines Kommentars) lohnt ein neuer Blick auf das Werk und den Menschen Hugo Distler.
Diese Edition sei allen, die an der Geschichte der Musik im 20. Jahrhunderts interessiert sind, wärmstens empfohlen – ein Muss für alle Distler-Forscher und dessen Musik schätzende Kirchenmusiker und Musikliebhaber ist sie sowieso.
Christian Münch-Cordellier