Karl Borromäus Waldeck (1841–1905)

Sämtliche Orgelwerke

hg. von Ikarus Kaiser und P. Maximilian Bak OCist

Verlag/Label: Wagner Verlag, WV GMW 002
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/03 , Seite 57

Wer von uns hätte sich nicht schon einmal im Sinne von H. G. Wells eine Zeitmaschine gewünscht, um in ein voriges Jahrhundert zurückreisen und ein einziges Mal Johann Sebastian Bachs „wunderliche Variationes und frembde Thone“ im Gottesdienst, Georg Friedrich Händels Wettstreit mit Domenico Scarlatti oder Anton Bruckners Orgelspiel im Stift St. Florian hören zu können?
Sind von Bach seine großartigen und singulären Orgelwerk überliefert und von Händel immerhin die Orgelkonzerte, gibt es von Bruckner leider nur ein paar frühe kleine Studienwerke, die den hingerissenen Beschreibungen seiner Improvisationskunst nicht einmal ansatzweise nahekommen.
Nicht nur aus diesem Grund ist die jüngste Veröffentlichung sämtlicher Orgelwerke seines Schülers, Vertrauten, Freundes und Nachfolgers als Dom- und Stadtpfarrorganist in Linz, Karl Borromäus Waldeck (1841–1905), von großem Interesse. In zeitgenössischen Presseartikeln wird Waldecks Fertigkeit in Orgelliteratur- und Stegreif-Spiel immer wieder mit derjenigen Bruck­ners verglichen, er selbst bezeichnete Bruckners Improvisationen als In­spira­tions­quelle für seine eigenen Orgelkompositionen.
In dieser ersten, von Ikarus Kaiser und Pater Maximilian Bak besorgten Gesamtausgabe, die alle derzeit bekannten Orgelwerke Waldecks vereint, finden sich zwölf abwechslungsreiche, meist als Fantasie, Fuge sowie Präludium und Konzert be­titelte Stücke, welche thematisch meist auf Sujets anderer Komponis­ten (u. a. auch Bruckner) oder geistliche und profane Liedmelodien zu­rückgreifen.
Die klangvollen Piecen sind nicht immer ganz einfach zu spielen, oft vollgriffig in den Manualen und verlangen teilweise auch versiertes Pedalspiel. Wer sich aber auf die Mühe des Studiums einlässt, wird mit einer Musik belohnt, die bei entsprechend „schmissiger“ Interpretation ihre Wirkung nicht verfehlt und sich in liturgischer und konzertanter Praxis sehr vielfältig einsetzen lässt.
Sehr interessant dabei ist auch die Fantasie für zwei Orgeln in C-Dur, die auf die lokale Situation der beiden Instrumente im Stift Wilhering bei Linz zurückgeht, wohin sowohl Bruckner als auch Waldeck eine engere Verbindung pflegten. Dort ist bei diesem Werk eine ideale Einheit von Instrument und Komposition gegeben. Es klingt auf den historischen Instrumenten von Leopold Breinbauer und Nikolaus Rum­mel natürlich besonders schön, lässt sich aber, wie die anderen Stücke ebenfalls, genauso andernorts vollgültig realisieren.
Ikarus Kaiser, Musikwissenschaftler und in Personalunion auch Wilheringer Stiftsorganist, legt mit dieser sorgfältig gemachten Ausgabe eine interessante Fortsetzung in der Reihe „Geistliche Musik im Stift Wilhering“ vor. Der Band ist vom Wagner-Verlag schön aufgemacht, mit großem Druck sehr gut lesbar, praktischerweise mit einem im Original nicht vorhandenen eigenen Sys­tem für die Pedalstimme versehen und enthält neben einem informativen Vorwort einen ausführlichen kritischen Bericht.
Wenn auch Karl Borromäus Wal­decks Werke mit der Genialität seines Vorbilds und Lehrmeisters vielleicht nicht adäquat mithalten können, so hat man doch das Gefühl, wenn man diese Musik hört und spielt, Anton Bruckner als Organist ein gutes Stück näherzukommen. Außerdem entdeckt man einen Komponisten der ausgehenden Romantik, dessen Werk und Vita kennenzulernen sich lohnt.

Christian von Blohn