Louis Vierne

Sämtliche Orgelsymphonien

Winfried Lichtscheidel an der Woehl-Orgel von St. Martinus Sendenhorst

Verlag/Label: 3 CDs, Ambiente ACD-2042 (2021)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2021/02 , Seite 62

Vor gut elf Jahren waren es Marcel Duprés 2. Sinfonie in cis-Moll und Franz Liszts Ad nos, mit denen Winfried Lichtscheidel aufhorchen ließ. Dann kam die Einspielung der Orgelfassung von Antonín Dvo­řáks Sinfonie Aus der Neuen Welt und der dicke Reger-Brocken Opus 127 (s. organ 1/2020), schließlich sämtliche Widor-Sinfonien, die 2018 auf der Bestenliste des Preises der Deutschen Schallplattenkritik standen – völlig zu Recht. Lichtscheidel, Kirchenmusiker im westfälischen Sendenhorst, erwies sich in allen Fällen als „Überflieger“: in musikalischer nicht weniger als in spieltechnischer Hinsicht.
Im letzten Jahr annoncierte er die Einspielung sämtlicher Vierne-Sinfonien, was unmittelbar Neugier weckte. Nun sind sie zu hören, Louis Viernes (1870–1937) Juwelen, eingespielt an Lichtscheidels „Hausorgel“, 1999 erbaut von Gerald Woehl in St. Martinus in Sendenhorst. Drei Manuale, 48 Regis­ter, durchaus mit französisch-roman­tischem Akzent. Dies kam schon der Widor-Aufnahme sehr entgegen, nun auch derjenigen in Sachen Vierne. Um es gleich vorweg zu sagen: Lichtscheidels Einspielung ist einfach superb!
Vielen LeserInnen wird die geradezu legendäre Einspielung an Cavaillé-Coll-Orgeln von Ben van Oosten auf Vinyl in Erinnerung sein (die es inzwischen auch auf CD gibt) – eine Produktion aus den späten 1980er Jahren (!), die Referenz-Qualität hatte und noch immer hat. Auch Jeremy Filsells 2004 bei Brilliant Classics vorgelegte Aufnahme aus Rouen, St. Ouen, ist und bleibt fraglos bemerkenswert. Lichtscheidel kommt nah, sehr nah an diese Maßstab setzenden Interpretationen heran! Wie oft sitzt man bei ihm ganz vorne auf der Stuhlkante, etwa bei der Sechsten, wenn der Interpret im Scherzo treffsicher dessen bizarren, spukhaften Charakter erspürt, sich dann lustvoll hineinwirft ins ultimative und jede Menge Sportlichkeit erfordernde Finale. Geradezu atemberaubend, ekstatisch, ja berauscht erlebt man die suggestive Kraft dieser fesselnden Musik!
Gravitätisch fließt bei Lichtscheidel das Prélude der 1. Sinfonie, satt grundiert vom 32’-Bourdon im Pedal; rhythmisch markant eröffnet er die Sinfonien Nr. 2 und 3, stets mit einer ganz fein dosierten Agogik, die Lichtscheidels Spiel nicht nur in diesen beiden Sätzen, sondern generell so lebendig und interessant macht.
Viernes Fünfte – mit knapp 45 Minuten Spielzeit die längste seiner sechs Sinfonien – ist sicher auch die geschlossenste seiner Sinfonien. Alle Sätze sind eng miteinander verwoben, die beiden antagonistischen Themen erscheinen in wechselndem Licht und in unterschiedlichster Gestalt. Hier immer wieder fantasievoll damit umzugehen, Bezüge herzustellen und letztlich einen großen Bogen über diese von Richard Wagner inspirierte Musik zu schlagen, gelingt Lichtscheidel ganz vortrefflich: vom grüblerischen Kopfsatz bis hin zum jubelnden Finale mit seinen hymnischen Akkorden und den toccatenhaften Girlanden. Das Instrument lässt ebenso wenig wie der Interpret Wünsche offen.
Vorbildlich auch das sehr informative und ausführliche Booklet (deutsch/englisch, mit Notenbeispielen) sowie die ausgezeichnete Aufnahmetechnik, die einen sehr authentischen Klangeindruck vermittelt. Die kathedralhafte Akustik der Sendenhorster St. Martinus-Kirche wird überzeugend eingefangen, dennoch bleibt das Klangbild stets transparent bis hinein in kleine musikalische Details.

Christoph Schulte im Walde