Prospettive Sinfoniche

Werke von Charles Tourne­mire, Louis Vierne, Sergio Marcianò, Gustav Merkel und Julius Reubke

Verlag/Label: Motette MOT 15010 (2020)
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2020/03 , Seite 62

Davide Paleari an der Balbiani-Mascioni-Orgel im Dom San Lorenzo (Voghera/Italien)

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Charles Tournemires Te Deum-Improvisation, Charakterstücke aus Louis Viernes Pièces en style libre, Julius Reubkes immer wieder frappierende Sonate über den 94.Psalm – es ist nicht die schlechteste Auswahl an Literatur, mit der der 1987 geborene Organist Davide Paleari die sinfonischen Qualitäten der Orgel im Dom San Lorenzo in Voghera (Lombardei) herausstellen will.
Etwas weniger in dieses Konzept passend wirkt dagegen die dreisätzige Sonate Nr. 5 von Sergio Marcianò (1922–2007) mit gut 15 Minuten Spieldauer, die in ihrer Klanglichkeit an Paul Hindemith und Hermann Schroeder erinnert. So­lide Musik, zweifellos; farbig und abwechslungsreich, mündend in ein majestätisches Finale mit gut erkennbarem Veni creator-Thema. Sol­ches kann man sich auch gut auf einer Barockorgel vorstellen, ist also nicht unbedingt „sinfoniche“ … Aber als Präsentation italienischer Orgelmusik des 20. Jahrhunderts hat Marcianòs Stück durchaus seinen Wert, wenngleich kompositorisch nicht unbedingt mit überbordender Fülle an Ideen gesegnet.
Kein Vergleich zu den mitunter vulkanhaften Ausbrüchen, mit denen Tournemire einst das Te Deum in die Orgeltasten gemeißelt hat. Und mit ihm Davide Paleari. Er hat für diese Hymne den absolut richtigen Zugriff. Louis Viernes „Lied“ wirkt dagegen etwas steiflich, etwas buchstabiert. Und dem „Divertissement“ desselben Komponisten fehlt es ein wenig an Witz, an Leichtigkeit. Hier hätte den sprudelnden Tongirlanden vielleicht ein leggiero ganz gut getan – wenn es schon kein staccato hat sein sollen. Beides wäre besser als ein Legato …
Vor das Reubke-Finale im Programm dieser CD schaltet Davide Paleari die knapp zehnminütige Fantasie Nr. 5 von Gustav Merkel, dem Reubke gegenüber nur sieben Jahre älteren Komponisten – aber musikalisch weit hinter diesem zurück und eigentlich eine Mendelssohn-Kopie! Ganz eindeutig im Adagio-Mittelsatz, den Merkel aus Mendelssohns 2. Orgelsonate „geklaut“ hat! Aber auch im „Maestoso“-Finale.
Reubke ist in Palearis Einspielung ein großer Wurf. Der Interpret spannt einen schlüssigen Bogen vom düsteren Beginn bis zum Finale mit seinen ruppigen Akkorden. Dazwischen viel pianistische Höchstleis­tung (immer im Dienst der Musik), gepaart mit beseelter Lyrik. Das hat Format!
Nicht ganz überzeugt die tontechnische Seite dieser Produktion. Immer wieder machen sich unschöne Schnitte bemerkbar, auch wird der Klang der Orgel (III + P/70) sehr direkt „eingefangen“, was dem Ziel, eine Orgel „sinfoniche“ zu präsentieren, nicht sonderlich entgegenkommt.
Und das Instrument selbst? Kna­ckig, selbstbewusst, sehr präsent! Im Zungenplenum neigt es leicht zum Keifen – ein Eindruck, der sich verstärkt, wenn die Mixturen ins Spiel kommen. Manch hübsche Einzelstimmen sind zu hören, allerdings auch (in Viernes „Lied“ beispielsweise) Grundstimmen, die sich nicht ganz entscheiden können, ob sie nun „spucken“ wollen/sollen oder nicht – mal tun sie es, mal nicht …

Christoph Schulte im Walde