Vierne, Louis

Pièces de Fantaisie op. 51 & 54 (24 Pièces de Fantaisie: Vol. 1)

Verlag/Label: Carus 83.250, Hybrid SACD (2008)
erschienen in: organ 2009/03 , Seite 57

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Mit der zweiten Folge der 24 Pièces de fantaisie setzt Carus seine Gesamteinspielung der Orgelwerke von Louis Vierne (1870-1937) an der neuen Kern-Orgel der Frauenkirche zu Dresden fort. Kay Johannsen interpretiert die Suite Nr. 1 (op. 51) und die deutlich populärere Suite Nr. 3 (op. 54), welche etwa den be­rühmten „Carillon de Westminster“ beinhaltet. Beide Sammlungen entstanden 1926/27, als sich Viernes depressive Stimmungen längst schon in einer hochgradig expressiven und chromatisierten Tonsprache niederschlugen.
Den zahlreichen bereits erhältlichen und teils hervorragend an fran­zösisch-symphonischen Originalinstrumenten eingespielten Auf­nah­men zum Trotz beharrt Carus wie andere Notenverlage auf seinem erfolgreichen Konzept, im eigenen Verlag edierte Notenausgaben stets mit eigenen CD-Einspielungen zu ergänzen. Der gewissermaßen ganz­heitliche und durchweg lobenswerte Ansatz dürfte auch marktstrategische Gründe haben, wovon letztlich auch die Kooperation mit der Stiftung Frauenkirche Dresden zeugt, welche hier als Koproduzentin fungiert – allerdings ohne dass deren Funktion näher beschrieben würde. Über touristisches Interesse hinaus darf der (versierte) Hörer auch die klanglich umgesetzten Früchte der Neuausgabe des Vierne’schen Gesamtwerks für die Orgel im Hause Carus ernten. Wer sich an die bisher erhältlichen, mit zahlreichen Druck­fehlern ausgestatteten Noten­editionen hielt (und sich nicht der unter Insidern kursierenden Fehlerlisten bediente), wird so manche Korrektur bemerken. Zeitgleich mit der Carus-Ausgabe bringt ebenso der Kasseler Bärenreiter-Verlag eine komplette kritische Neuausgabe sämtlicher Tastenmusik Viernes auf den Markt.
Selten war ein Orgelneubau in der Öffentlichkeit so umstritten wie derjenige für die wieder aufgebaute Frauenkirche – und man darf sich auch hier die Frage stellen, ob das schließlich errichtete „Kompromiss“-Instrument aus dem Strasbourger Hause Daniel Kern, das laut Booklettext „dem Kernbestand der Orgel Silbermanns aus Erfahrung mit der französischen Orgelsymphonik weitere Stimmen hinzutreten ließ, vor allem ein Schwell­werk (Récit expressif) für die Musik des 19. Jahrhunderts“, das Richtige für eine Vierne-Gesamteinspielung ist. Dazu kommt die Tatsache, dass die Dresdner Frauenkirche als barocke lutherische Predigtkirche rein akustisch schon alles andere ist als eine französische Kathedrale …; und an einer solchen – und zwar an der französischen Mutterkathedrale schlechthin: Notre-Dame de Paris – war Vierne nahezu sein gesamtes schöpferisches Leben hindurch und bis zu seinem Tode als Titularorganist tätig. In der Tat klingt in den vergleichsweise „beengten“ Dres­dner Verhältnissen alles deutlich durchhörbarer, polyphoner – ja (darf man es sagen?) „deutscher“ – als auf der Orgue symphonique nach der Manier Aristide Cavaillé-Colls. Die Prinzipale erscheinen schneidender, die Flöten herber, die Aliquoten barocker, die kurzbechrigen Zungen schärfer, die Trompeten und Posaunen heller und direkter. Hinzu kommt eine Aufnahmetechnik im Surround-Format, die den Orgelklang recht direkt (und doch auch den warmen Nachhall mit-) einfängt. Eine heikle Aufgabe für den Interpreten, wird doch jede spieltechnische Unsicherheit, jede agogische Wendung, aber auch interpretatorische Raffinesse deutlich hörbar abgebildet.
Der Stuttgarter Organist und Stiftskantor Kay Johannsen jedenfalls – als diskografisch produktiver Bach-Interpret geschätzt – dürfte aufgrund seines historisch versierten Hintergrundes gewissermaßen die Idealbesetzung für dieses nicht unheikle Aufnahmeprojekt sein, leuchtet doch hinter den improvisatorisch motivierten Charakterstü­cken Viernes stets auch eine klare, satztechnisch fundierte Struktur her­vor, was ja gerade deren kompositorische Stärke ausmacht. Johannsen löst die Erwartungen an einen frischen Interpretationsansatz voll ein: Mit spieltechnischer Souveränität, feinen agogischen Details, dem Instrument angemessenen Tempi und Registrierungen schafft er eine verblüffend lichte Atmosphäre. Dadurch wirkt nichts spröde oder aka­demisch, sondern mal lyrisch, mal kraftvoll – oder gelegentlich, wie etwa bei den Fantômes, mit augenzwinkerndem Witz. So gelingt ihm eine wirklich überraschend unkonventionelle Darstellung der Fan­tasiestücke, die man den etablierten Einspielungen als entschlackte, „hel­lere“ Alternative getrost zur Seite stellen kann.

Dominik Axtmann