Oxford University Press

Stücke von William Walton Crown, William Matthias, Georgi Mushel, John Rutter und David Bednall

erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2020/02 , Seite 60
Die Oxford University Press (OUP) ist sicherlich eines der renommiertesten Verlagshäuser Großbritanniens. Und so präsentiert man sich auch: schlicht, aber edel! Das einheitliche Cover der neu aufgelegten „Oxford Organ Library“ zeigt sich grafisch in dezentem Blau, dazu schwarze Schrift auf weißem Grund. Im Inneren der als Einzelausgaben in sauberem, optisch ansprechendem und gut lesbarem Druck edierten Werke findet sich dann nach eigenem Bekunden ein vielfältiges und äußerst nützliches Repertoire, geeignet sowohl für Konzert als auch für den Gottesdienst, eine ergiebige Quelle für den heutigen Organisten.
Neben Auftragswerken „hauseigener“ Komponisten auch aus jüngs­ter Zeit enthält die Edition etliche Neuauflagen bewährter „Klassiker“, darunter die beiden Krönungsmärsche von William Walton, aber auch Stücke, die erstmals in der zweibändigen Reihe „Modern Organ Music“ Mitte der 1960er Jahre erschienen sind und heute zum festen Repertoirekanon der Zunft gehören.
Da alle Werke in den letzten hundert Jahren entstanden sind, bietet die Reihe zudem ein anschauliches Kaleidoskop der sogenannten musikalischen Moderne, in der post- und neoromantische Tendenzen da­mals wie heute ebenso zum guten Ton gehören wie Anleihen aus Popular-, Jazz- oder Weltmusik.
William Walton (1902–83) erwarb sich 1923 noch mit Façade, einem Werk von 21 experimentellen Gedichten für Sprecher und Instrumente, den Ruf eines „Enfant terrible“ der britischen Musik. Doch mehr und mehr dominierten neoromantische Einflüsse seine musikalische Sprache, bis hin zu un­verkennbaren Anleihen bei Edward Elgar. Außer einem unveröffentlichten Choralvorspiel von 39 Takten hat er, dessen musikalische Ausbildung als Chorknabe der Christ Church Cathedral von Oxford begann, kein originäres Orgelstück komponiert. Sein Crown Imperial aus dem Jahr 1937, ein Auftragswerk zur Krönung von George VI., trug ihm zwar heftige Kritik ein, weil es nicht repräsentativ für den Komponisten sei, etablierte ihn aber endgültig in der britischen Musikwelt. Da das Werk auf Wunsch der Auftraggeber im Stile Elgars gehalten sein sollte, gaben ihm „böse Zungen“ auch den Beinamen „Pomp and Circumstance March No. 6“.
Wenn auch viele Bewunderer Wal­tons ob dieser Arbeit enttäuscht waren – seine Wirkung beim Publikum verfehlte der Krönungsmarsch nicht. Und dies gilt sicherlich bis heute. Wer sein Publikum gerne mit „schöner“ und ansprechender Musik erfreuen möchte, der hat mit diesem Arrangement aus der Feder von Herbert Murrill eine dankbare Alternative zu den populären Elgar-Märschen. Der Schwierigkeitsgrad ist eher moderat, das klangliche Ergebnis – ein üppiges Instrument vorausgesetzt – überzeugt allemal.
Technisch weit anspruchsvoller ist da der zweite Marsch Orb and Scepture, komponiert 1953 zur Krönung der noch immer amtierenden Queen Elizabeth II. und für Orgel transkribiert von Robert Gower. Auch hier gibt es im Trio-Mittelteil – wie schon bei Crown Imperial – eine typisch englische Melodie à la Elgar, die britischer nicht sein könnte und unmittelbar royalen Glanz aufkommen lässt.
William Matthias’ Processional und Georgi Mushels Toccata wurden erstmals in dem bereits erwähnten Doppelband „Modern Organ Music“ Mitte der 1960er bei OUP veröffentlicht. Der Prozessionsmarsch des Walisischen Komponisten William Mat­t­hias (1934–92) ist ein echt keckes Schmankerl, nicht unbedingt geeignet für eine sich behäbig dahinquälende Prozession, umso mehr aber, wenn man eine unter der Bürde des Amts schleichende Klerikerschar in Schwung bringen will. Das in Rondoform angelegte Werk beginnt archaisch modal, wird zunehmend mit pikanteren, schärferen Klängen gewürzt, ehe es im triumphalen Tutti endet. Die einpräg­same Melodie, im zweiten Durchgang mit Umspielungen leicht variiert, hat echten Ohrwurm-Charakter und wird sicherlich manchen Kirchgänger auf seinem Nachhauseweg begleiten.
Einen ähnlichen „Sucht-Faktor“ hat auch Georgi Mushels (1909–89) wahrlich mitreißende Toccata. Sie ist Teil seiner Usbekistan-Suite und sicherlich das, was man gemeinhin einen Wurf nennt. Noel Rawsthorne, von 1955 bis 1980 Organist der anglikanischen Kathedrale von Li­verpool, brachte dieses Stück von einer Konzertreise durch die damalige UdSSR, auf der er Mushel begegnete, mit und ebnete so den Weg für eine Verbreitung im Westen. Im Stil eines ukrainischen Kosakentanzes begeistert dieses harmonisch und melodisch eingängige Stück auch heute noch durch seine ungestüm vorwärtsdrängende Motorik. Mit entsprechender Verve gespielt, kann die Toccata für Spieler wie Hörer gleichermaßen ein rauschhaftes „Orgelerlebnis“ bescheren.
John Rutter, Jahrgang 1945, zählt wohl zu den populärsten Kirchenmusikkomponisten der Gegenwart; kaum ein Kirchenchor dürfte nicht eines seiner hymnischen, oder besser gesagt himmlischen „Blessings“ im Repertoire haben. Zwar ist Rutter noch nicht „knighted“, darf sich somit auch noch nicht „Sir“ nennen, seine Musik ist aber längst „geadelt“, nicht zuletzt durch ein von der Westminster Abbey als Hochzeitsgeschenk in Auftrag gegebenes Werk zur Trauung von William und Kate im Jahr 2011. In den 1980er und 1990er Jahren musste der Komponist noch naserümpfende Häme unter Kollegen einstecken – heute aber kann offene Kritik an seiner Musik schon mal den Job kosten, wie ein Organ Scholar der Westminster Abbey schmerzhaft erfahren musste.
Rutters Toccata in Seven (im 7/8-Takt), 1975 im Second Easy Album bei OUP erstmals veröffentlicht, ist aufgrund ihrer sicherlich vorhandenen Originalität, aber auch wegen ihrer einfachen Spielbarkeit zu einem echten Klassiker der Moderne geworden. Auch hier wie bei Walton vertrautes harmonisches Terrain und ungetrübte (Spiel-)Freude. Zudem ist das Stück mit gerade einmal vier Seiten sehr überschaubar.
Rutters Elegy steht in puncto Intensität und musikalischer Tiefe sicherlich nicht (ganz) auf einer Stufe mit Thalben-Ball oder Whitlock, dennoch gelingt Rutter hier ein vorzügliches Stück(chen) mit dem für ihn so charakteristischen „warm sense of Englishness“. Am überzeugendsten entfaltet sich die Klanglichkeit des Werks mit seiner erhaben fließenden Tenormelodie wohl auf einer großen, grundtönigen Orgel in entsprechend üppiger Akus­tik. Gleiches gilt auch für Festive Bells, das, wie der Name schon sagt, das für den angelsächsischen Kulturraum so typische „change ringing“ imitiert. Beide Stücke sind leicht erlernbar, bieten somit auch dem Amateurorganisten zwei echte „Bravourstücke“, die sowohl bei Beerdigungen als auch bei Hochzeiten die eine oder andere Träne der Rührung hervorrufen dürften.
David Bednall (Jahrgang 1979) ist der jüngste im Bunde der hier vorgestellten Komponisten. Er studierte u. a. Orgel bei David Briggs und Naji Hakim, und so zeigt sein Kompositionsstil eine unverkennbare Affinität zur großen französischen Orgeltradition. Trotz eines bereits beachtlichen Œuvres hat Bednalls Musik spürbare Tiefe und Kraft, schlägt eine überzeugende Brücke zwischen Historie und Jetzt, wirkt aber nie beliebig oder gar nach Baukastenprinzip zusammengebastelt.
Evocation of Wells Cathedral („O Radix Jesse“) aus dem Jahr 2016 ist eine wunderbare, mystisch-strahlende Hommage an das berühmte Wurzel-Jesse-Fenster der im 14. Jahrhundert erbauten Kathedrale (Bednall ist sub organist der Wells Cathedral). Die Musik verströmt in ihrem ruhig dahinfließenden Duktus und ihrer leuchtend-farbigen Harmonik eine ungemeine, höchst ausdrucksstarke Intensität.
Walton’s Paean wurde 2018 zum 40. Geburtstag des Organisten Paul Walton in Auftrag gegeben und ist ein Werk von ausgelassener Festlichkeit, das mit großem Elan, pulsierenden Rhythmen und mitunter überraschenden Harmonien einem fulminanten Finale entgegenrast. Gelegentliche humorvolle Verweise auf den berühmten Namensvetter William (Walton) geben dem Ganzen eine zusätzliche pikante Würze. Rhapsody aus dem Jahr 2010, das mit 16 Seiten umfangreichste Stück, nutzt sämtliche Ressourcen der Orgel. Mit seinen treibenden Rhythmen ist es ein berauschendes, virtuoses Bravourstück (für Geübtere) mit gelegentlichen Reminiszenzen an Langlais und Messiaen, das trotz seines improvisatorischen Gestus dennoch klaren Form- und Strukturregeln folgt.
Wer sein Repertoire um „Spielbares“ der sogenannten Moderne erweitern will, dem seien sämtliche dieser hier vorgestellten, hörerfreundlichen Kompositionen wärmstens empfohlen.

Wolfgang Valerius