José María Usandizaga (1887–1915)

Ouverture Symphonique op. 21 sur un thème de plain chant

für Orgel bearbeitet von Heinrich Walther (2013)

Verlag/Label: Verlag Christoph Dohr, M-2020-4399-8
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2021/03 , Seite 55

Auf der Suche nach neuer Literatur für Orgel kann man bisweilen immer noch wahre Schätze entdecken. So hat der Verlag Dohr vier Werke des mir bis dato völlig unbekannten Komponisten José María Usandizaga, ursprünglich für Orchester geschrieben, in einer Bearbeitung für Orgel von Heinrich Walther neu herausgebracht. Der spanische Kom­ponist José María Usandizaga (1887–1915) stammte aus der Hauptstadt San Sebastián der baskischen Provinz Gipuzkoa, und bei so manchem Orgelfreund und mancher Orgelfreundin mag jetzt im Kopf vielleicht schon der Name Aristide Cavaillé-Coll aufblitzen. Nach ers­ten Studien in seiner Heimatstadt ging Usandizaga 1901 an die Schola Cantorum nach Paris und studierte zunächst Klavier bei Francis Planté, musste seine pia­nistischen Ambitionen aber wegen einer Gelenkverletzung aufgeben. Wahrscheinlich war das mit einer seiner Hauptgründe, sich fortan dem Komponieren zuzuwenden, denn er trat in die Klasse von Vincent d’Indy ein.
In Paris an der Wende zum 20. Jahrhundert traf man auf eine hochspannende musikalische Gemengelage: Die Romantik war noch präsent, der Impressionismus schon etabliert, und der Expressionismus kündigte sich bereits an. Auch kirchenmusikalisch war die Zeit um 1900 eine bewegte Ära. Im Motu Proprio „Tra le sollecitudini“ formulierte Pius X. 1903 unter anderem Ideale und Ziele der deutschen Cäcilianer. Die damit verbundene Restaurationsbewegung des Gregorianischen Chorals, für die Orgelmusik in Frankreich bis heute von großer Bedeutung, führte zur Neuausgabe des Graduale Romanum (1908). In politischer Hinsicht kam es 1905 in Frankreich zur Trennung von Staat und Kirche. Die damit verbundenen Umstrukturierungen und Kürzungen der finanziellen Mittel stürzten die Kirchenmusik vielerorts in eine schwere Krise.
1906 kehrte Usandizaga voller faszinierender Eindrücke aus dem kulturellen Schmelztiegel Paris wieder in seine Heimat zurück, wo er mit seinen Kompositionen große Erfolge feiern konnte. In Spanien beteiligte er sich daran, der Orgel als liturgischem Instrument wieder mehr Bedeutung zu verschaffen, und verbrachte viele Stunden an „seiner“ Cavaillé-Coll-Orgel an der Basilika Santa María del Coro in San Sebas­tián. Insofern ist die Idee, einige seiner dafür geeigneten und erfolgreichen Orchesterwerke auch für die Orgel zu bearbeiten, durchaus sinnfällig.
Dans la Mer ist im eigentlichen Sinne eine Art „Programmmusik“ und erzählt in verschiedenen Bildern die Geschichte von zwei Liebenden auf einer Barke im Meer, die im heranziehenden Sturm ihr Leben verlieren. Die Tonsprache ist für einen 17-Jährigen (die Orchesterpartitur datiert von 1904) erstaunlich weit entwickelt. Es scheinen zwar immer wieder durch Usandizagas Paris-Aufenthalt geprägte Reminis­zenzen durch, aber das leicht ins Impressionistische gehende Flair auf der einen und das spanisch-baskische Lokalkolorit auf der anderen Seite ergeben eine durchaus reizvolle Melange.
Hinter Irurak Bat verbergen sich baskische Weisen, welche Usandizaga oft in seinen Werken benutzt hat. Auch hier steckt die technisch bisweilen diffizile Bearbeitung voller musikalischer Abwechslungen und Überraschungen. Welches Gregorianische Thema hinter der Ouverture Symphonique sur un thème de plain chant steckt, hat sich mir nicht erschlossen, vielleicht wegen der Verfremdung der melodischen Urgestalt durch die wahrscheinlich von den Theorien der Abtei von Solesmes beeinflussten Rhythmisierung. Das Werk ist in seiner ursprünglichen Gestalt ausgesprochen farbig besetzt. Hilfreich bei der Suche nach einer geeigneten Registrierung für die Realisierung auf der Orgel sind die in allen Ausgaben beigefügten Hinweise auf die originale Instrumentierung.
Das frühe Entstehungsdatum der Suite en La (März 1904) macht bewusst, dass es sich hier um eine der ersten Früchte aus Usandizagas Lehrjahren bei d’Indy handelt. Die vier Sätze sind nach barocken Vorbildern benannt. Das „Prélude“ zaubert eine beschauliche Stimmung, während das Menuett überraschenderweise sehr „klassisch“ daherkommt, wenn auch manche Stellen wie die Molldominante in Takt 40 stilistisch wieder eher untypisch sind. Puristen mögen sich an der Stimmführung mit bisweilen parallelen Quinten und nachschlagenden Oktaven stören, wobei man sagen muss, dass diese in der Orchesterfassung weniger auffällig sind als bei Tas­ten­instrumenten. Die Sarabande gleicht eher einem Lamento als dem baro­cken Vorbild, während das Finale eine unbeschwerte Gute-Laune-Musik mit einer den Hauptfunktionen verhafteten Harmonik präsentiert. Ein Moderato kurz vorm finalen Presto zitiert noch einmal die besinnliche Stimmung des Anfangs. Wenn die Grund-Tempo­angabe ernstgenommen wird, sind einige Stellen auch hier durchaus knifflig.
Der im Metier Orgeltranskriptionen sehr erfahrene Heinrich Wal­ther hat die Orchesterpartituren ins­gesamt sehr gut für Orgel realisiert. Eine fundierte pianistische Technik ist trotzdem nicht eben hinderlich, beispielsweise bei den tremoloartigen Oktaven in der rechten Hand bei Irurak Bat ab Takt 35. Bisweilen werden weite Griffe verlangt wie im „Prélude“ der Suite en La. Besonders in Dans la Mer fordert das Arrangement bisweilen einen Manualumfang über g3 hinaus (Takt 11, 48–50, 56 etc.) – in Amerika und in Teilen des Commonwealth selbstverständlich, in unseren Gefilden aber eher die Ausnahme. Vielleicht wäre hier eine „Ossia-Fassung“ hilfreich gewesen. Bisweilen hätte man sich auch einen zumindest kurzen kritischen Bericht gewünscht, der zum Beispiel darüber Aufschluss gibt, wa­rum in Takt 19 des „Menuet“ der Suite en La das cis3 in den ersten Violinen auf Zählzeit 1 in der handschriftlichen Partitur in der Orgelfassung zu c3 geändert wurde, vielleicht als Analogie zum c2 der zweiten Violinen zwei Takte zuvor?
Usandizaga starb unglücklicherweise schon 1915 an Tuberkulose (er teilt dieses Schicksal beispielsweise mit dem ebenfalls früh verstorbenen elsässischen Organisten Léon Boëllmann). Von dem spanischen Komponisten wäre wohl noch viel zu erwarten gewesen. Immerhin verfügen die OrganistInnen mit diesen die Beschäftigung lohnenden vier Transkriptionen von Heinrich Walther nun über die Möglichkeit, ihr Repertoire zu erweitern und diese wundervolle Musik einem grö­ßeren Publikum zugänglich zu machen.

Christian von Blohn