Bach, Johann Sebastian / Nicholas de Grigny / Alexandre Pierre Boëly

Orgelwerke von Bach, de Grigny und Boëly

Verlag/Label: Gallo CD-1186 (2009)
erschienen in: organ 2009/04 , Seite 52

4 Pfeifen

Die Schnittpunkte französischer und deutscher Traditionslinien im Bereich der Orgelmusik beider zent­raleuropäischer Nachbarländer auf­zuzeigen ist die erklärte Intention dieser hörenswerten Aufnahme.
J. S. Bach, der Grignys Livre d’orgue bekanntlich handschriftlich kopiert hatte, lieferte mit vielen seiner eigenen Komposition ein Zeugnis für seine einzigartige Fähigkeit, ver­schiedene nationale Musikstile sehr individuell zu einem neuen Ganzen zu formen und zugleich zu einer formalen Vollendung zu führen. Pierre Alexandre Boëly wiederum leistete einen entscheidenden Beitrag für die Bach-Rezeption bzw. -Renaissance im nachrevolutionären Frankreich des 19. Jahrhunderts. Aus Verehrung für das kontrapunktische Genie des Leipziger Thomaskantors schrieb er ebenfalls zahlreiche seiner Werke ab. Daneben wagte er es als Erster, eine eigene Vervollständigung des legendären unvollendeten Contrapunctus XV (Quadrupelfuge) aus Bachs Kunst der Fuge vorzulegen (1833), auf der vorliegenden CD als eine echte Rarität dokumentiert.
Emmanuel Le Divellec präsentiert sich gleich zu Anfang der CD als einfallsreicher Connaisseur und Ex­perte hinsichtlich geschmackvoller barocker Ornamentierungskunst. Seine Verzierungen sind elegant und fügen sich stets organisch in den musikalischen Fluss des Ganzen ein. Er „touchiert“ die Orgel im wahrsten Sinne des Wortes mit enormer Sensibilität und Ausdrucks­kraft. Interessant auch seine Art der Darstellung von Bachs Fantasie BWV 562 und des Pièce d’orgue BWV 572 mit zauberhaft leichtem und keinesfalls irritierenden jeu inégal … Boëlys Miniaturen aus Opus 15 und Ms. 170,7 fügen sich in das Umfeld der aufgenommenen Choralvorspiele aus Bachs Orgelbüchlein erstaunlich gut ein. Hier wird deutlich, dass der Pariser Organist und Kirchenmusiker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein vielleicht noch immer unterschätztes Bindeglied zwischen dem altfranzösischem Barock und J. S. Bach auf der einen und der späteren französischen Romantik und Post­romantik auf der anderen Seite bildet; wenngleich seine eigene Musiksprache auch einwenig altbacken und scholastisch daherkommt; ganz im Gegensatz etwa zum rund siebzig Jahre später agierenden Marcel Dupré, der die alten Gattungen und Formen gelegentlich als Korsett für eine individuelle und originäre eigene Tonsprache benutzt.
Die opulente viermanualige Goll-Orgel von 1991 (67 klingende Re­gis­ter, vollmechanisch) ist von ihrer Konzeption her speziell angelegt für die Darstellung der französischen Musik von „Titelouze bis Messiaen“. Auch Bach lässt sich auf diesem polyphonen Werk bestens spielen. Im Sinne einer guten Kompromiss­orgel erweist sie sich in ihren auf dieser CD vorgeführten unterschied­lichen stilistischen Verwendungsmöglichkeiten als erstaunlich vielfältig, gewiss ohne deswegen gleich kontur- und gesichtslos zu erscheinen. Eine rundum hörenswerte und klangschöne Einspielung eines hervorragenden Interpreten.

Christian von Blohn