Gregor Lehr (1906–86)

Orgelwerke

Choralbearbeitungen und freie Stücke, hg. von Peter Reifenberg

Verlag/Label: Schott Music, ED 23473
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2022/04 , Seite 59

Nur „Insidern“ aus dem Bistum Mainz bzw. aus dem Umfeld des Wormser Domes mag der Name Gregor Lehr noch ein Begriff sein. Peter Reifenberg kommt das Verdienst zu, dass sich dies mit der Herausgabe der Orgelwerke des ehemaligen Wormser Domorganisten nun ändern könnte.
Gregor Lehr wurde 1906 im rheinhessischen Heßloch geboren und entstammte bescheidenen Verhältnissen. Er absolvierte ein Musikstudium in Mainz und übernahm bereits 1934 das Amt des Wormser Domorganisten, nachdem sein Onkel Karl Lehr, der diese Stelle zuvor innehatte, gestorben war. Nur durch die Jahre seiner Kriegsgefangenschaft unterbrochen, versah Lehr seinen Dienst dort, ab 1948 zusätzlich auch als Domkapellmeister, bis ins Jahr 1977.
Der mit 90 Seiten recht umfangreiche Band enthält nach einem interessanten Vorwort des Herausgebers insgesamt 24 Stücke. Darunter befinden sich zahlreiche Choral-Vorspiele bzw. -Variationen, eine kleine Choralfantasie, eine Choral-Fuge und -Fughette, aber auch ungebundene Stücke wie Präludium, Postludium und Fantasie. Den Anfang machen zwei Präludien in dreiteiliger Form. Bereits hier manifestiert sich Lehrs auf dem Boden der Romantik fußende Tonsprache, eher an konservative Strömungen à la Josef Rheinberger als an „Neutöner“ wie Max Reger erinnernd.
Bei den Variationen über „Herr, wir kommen schuldbeladen“ sind interessanterweise wohl originale Finger- und Fußsätze eingetragen, die auf das Ideal eines absoluten Legato-Spiels, wie es zu dieser Zeit noch durchaus üblich war, schließen lassen. Lehr erweist sich hier als geschickter Kontrapunktiker. Die vierte Variation mit durchgängigen Sechzehnteln im Pedal (bei konstantem Legato!) muss als knifflig bezeichnet werden. Sollte das Entstehungsdatum (1920) stimmen, handelt es sich hier zudem um die beachtliche Arbeit eines erst 14-Jährigen! – Auch die folgenden Choralbearbeitungen sind klangschön und mit gekonnter Stimmführung gearbeitet, wobei manche Stücke wie „Alles meinem Gott zu Ehren“ durch ihre Fantasie und technischen Anforderungen wie Terzgänge in den Manualen und solistisches Pedalspiel herausragen. Auch die Fuge in d-Moll sowie die den Band beschließende Fantasie haben Anspruch und erfordern entsprechende interpretatorische und technische Fertigkeiten.
Glaubt man den zeitgenössischen Beschreibungen, muss Lehr ein sehr versierter Spieler und Improvisator gewesen sein, der neben seinem liturgischen Dienst, den er mit großer Ernsthaftigkeit versah, auch konzertant auftrat. Man könnte sich natürlich trotz alledem die Frage stellen, warum man heutzutage posthum die Werke eines Komponisten ediert, dessen Schreibweise schon zu seinen Lebzeiten, verglichen mit den vielfältigen musikalischen Strömungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als anachronistisch hätte bezeichnet werden können.
Allerdings gewährt der Band einen interessanten Einblick in die musikalisch-liturgische Praxis an einer der bedeutendsten Kirchen des Bistums Mainz und kann daher exemplarisch stehen für einen wichtigen, über vierzigjährigen Abschnitt kirchenmusikalischer Kultur- und Zeitgeschichte.

Christian von Blohn