Ludwig Thiele (1816–48)

Orgelwerke

hg. von Tobias Zuleger

Verlag/Label: Dr. Butz, BU 2846
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2018/03 , Seite 58

Ludwig Thiele (Studium und Wirken weitgehend in Berlin; frühzeitig an Cholera gestorben) ließ die Tinte reichlich aufs Notenpapier strömen. In seiner Zeit war das Bedürfnis nach liturgischer Orgel­musik schwach ausgeprägt, man vertraute der Orgel allenfalls konzertante Aufgaben an. So gab sich auch Thiele diesem Genre hin – und folgte, wie andere Orgelkomponisten jener Zeit, einer gewissen Bach-Tradition, freilich ohne die sorgsame Ökonomie des großen Leipzigers, vielmehr mit einer quantitativ überbordenden Hemmungslosigkeit.
Tobias Zuleger fügt in seiner Ausgabe einige Orgelwerke Thieles zusammen. Schon das erste Stück, Chromatische Fantasie und Fuge, verblüfft mit seinen ausladenden 250 Takten auf (freilich großzügig gedruckten) zwölf Seiten. Bereits optisch erinnert es an Bachs gleichnamiges Werk – und auch bei vielen Stellen an die „epidemische“ Toccata und Fuge d-Moll (BWV 565) des Thomaskantors: Sechzehntelläufe ausschweifend, plötzlich stockend-lahme Viertel-Ruhe, schüttere Harmonik, eher wie Kadenzübungen anmutend … einfache Klangfolgen; fast das Aufregendste stellen bereits einige verminderte Septakkorde dar. Ab Takt 150 beginnt quasi eine Reprise, die genauso spannungsarm daherkommt wie die 149 Takte zuvor. Die Fuge (à 5) entpuppt sich als eine doppelte (man gönnt sich ja sonst nichts) und ergeht sich häufig, vorgeblich spannungssteigernd, in Orgelpunkten. Die beiden motivisch wirklich nicht kreativen Themen verbinden sich absolut konventionell und ohne echtes Aufregungsmoment.
Es folgt eine Fuga à 4 mit störrischen Sext-Ketten; jede diesbezügliche Chopin-Etüde zeigt weitaus mehr temperamentvolle Eleganz. Hier ist es einfach nur … einfach. Das ganze Stück mutet an wie eine Kontrapunktübung mit Themenumkehrungen und gar viel filetto dell’organista (133 Takte, 16 Seiten).
Das dritte Werk dieser Ausgabe ist ein Concertsatz, ursprünglich vierhändig, von Thieles Freund August Haupt auf (mit Pedal) vier Extremitäten reduziert. Geschwätzig bringt das Werk viele quälende Sequenzen mit wenig ergiebiger Harmonik. Allein der verminderte Septakkord, er feiert wieder sein eintöniges Erscheinen (304 Takte, 18 Seiten). Die den Band abschließenden Variationen As-Dur beherzigen die progressive rhythmische Diminution, unaufgeregt, vordergründig virtuos, je schwärzer das Notenbild wird.
Wer soll, wer will das spielen? Wer genug von Regers lohnend-großartigen Anforderungen, von Karg-Elerts kreativer Harmonik, ja selbst von Max Gulbins’ durchaus dramatischen Einfällen hat (um sich auf deutsche Tonsetzer zu beschränken und ohne andere, etwa französisch-geistreiche Komponisten dieser Zeit zu erwähnen) und sich dann noch mit den exzessiv-schwierigen Pedalanforderungen Thieles (es sind wahrlich unglaublich heftige Exerzitien) herumschlagen will, mag Gefallen an diesen Stücken finden. Der technische Aufwand steht jedenfalls in keinem gesunden Verhältnis zum musikalischen Ergebnis.

Klaus Uwe Ludwig