Orgelpunkt: Rieger Organ St. Martin | Kassel

Eckhard Manz an der Rieger Orgel von St. Martin in Kassel

Verlag/Label: SACD, Dabringhaus und Grimm, MDG 951 2226-6 (2021)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2021/03 , Seite 60

Bewertung: 5 von 5 Orgelpfeifen (= beste Wertung!)

Als Radio Bremen 1961 an Bengt Hambraeus, Mauricio Kagel und György Ligeti je einen Komposi­tions­auftrag für ein Orgelwerk vergab mit der Maßgabe, „die Möglichkeiten der Orgel heute neu zu durchdenken“ (Hans Otte), wurde der Orgelwind schnell zu einem ihrer Hauptexperimentierfelder. Ligeti wollte die „Möglichkeiten der mechanischen Orgel, ‚Zwischenklänge‘ mit Intonationsschwankungen zu erzeugen, möglichst vielfältig ausnutzen“.
Hat Gerd Zacher anfangs den Winddruck noch vermindert, indem er mittels eines Staubsaugers Wind aus der Balganlage absaugte, ist mit der Einweihung der Rieger-Orgel in der St. Martinskirche in Kassel 2017 die fast vollständige Regulierung und Kontrolle des Windes integraler Bestandteil des Instruments. Der Organist Eckhard Manz erhoffte sich schon im Vorfeld des Orgelbaus aus den Möglichkeiten der Winddruckverminderung „aushauchende und ersterbende Klänge von unglaublicher Farbigkeit und Poesie“. Vom Überdruck erwartete er, dass die Pfeifen im Klang „Leiden, Verstörung, Abgrund und großen existenziellen Druck“ vermitteln.
An Pfingsten 2021 wurde der Orgelanlage eine im Raum frei verschiebbare Experimentalorgel hinzugefügt. „Experimental“, so Manz, „sollte eine Herausforderung an die Spieler darstellen und auch an die Hörer, dass es hier etwas zu gestalten gibt, was es bislang noch nicht gab und ein Experiment sein kann.“
– Experimente kann man auf beiden Orgeln, die ohne jeglichen elektronischen Schnickschnack auskommen, reichlich machen. So gibt es ein Vierteltonmanual und ein Register, bei der die Oktave in 31 Töne eingeteilt ist. Man findet seltenere Aliquotregister wie Siebenquart oder Mollterz. Ein Zungenregister mit einer durchschlagenden Zunge und eines, bei dem das Material der aufschlagenden Zunge zu dünn ist, um einen „ordentlichen“ und geräuschfreien Ton zu produzieren. Zahlreiche Möglichkeiten der Windsteuerung bis hin Drehventilen an den Tasten. Die Grenzen des traditionellen Orgelbaus sind wohl in der Windharfe 8’ erreicht, wo durch Ausreizen der Extreme bei der Mensur und an der Kernspalte der Grundton fast nicht mehr zu hören ist und der Geräuschanteil überwiegt.
So präsentiert die Ersteinspielung dieser Orgelanlage klassische Orgelmusik von Antonio de Cabezón, über Hieronymus Praetorius, Georg Böhm, Nicolas de Grigny, J. S. Bach bis hin zu Olivier Messiaen und Otfried Büsing. Dazu fünf Auftragswerke für diese Orgel von Gitbi Kwon, Anna Sowa, Caspar Johannes Walter, Mauricio Silva Orendain und Samuel Cook. In ihnen werden der Wind und das Geräusch, indifferente, instabile und unruhige Klänge, zu den zentralen Kompositionsmerkmalen. – Irgendwann beim Hören der CD weiß man nicht mehr genau, was man hört, verdächtigt Manz sogar, bei Messiaen eine Winddrossel eingesetzt zu haben. Die Kombination aus Altem und Neuem in Musik und Orgelbau macht diese CD zu etwas Ungehörtem und Unerhörtem und zu etwas, das man auf keinen Fall verpassen sollte.

Ralf-Thomas Lindner