Katelijne Schiltz / Lucinde Braun (Hg.)
Orgelpredigten in Europa (1600–1800)
Musiktheoretische, theologische und historische Perspektiven
„Erwache!“, ruft Erzbischof Laurent Ulrich der Orgel in Notre Dame in Paris zu. (Interessant: Wie so oft wird hier die Orgel angesprochen und nicht der Organist.) Ob es sich bei diesem Zuruf, diesem Erweckungsprozess um eine Orgelweihe oder eine Wiederindienststellung handelt oder eine wie auch immer zu betitelnde andere Handlung, sei dahingestellt. Letztlich spielt sie wieder, die Orgel, und es bedarf einiger kluger Kommentare – natürlich von der Seite der Geistlichkeit. (Die Organisten haben – Olivier Latry hat das in diesem Gottesdienst auf ziemlich umstrittene Weise zu Gehör gebracht – ihre eigene und ganz andere Sprache.)
Die Tagung zum Thema „Orgelpredigten in Europa (1600-1800)“, die 2019 in Regensburg abgehalten wurde, markiert den Anfang eines neuen Forschungsschwerpunkts. Im vorliegenden Band werden die Textbeiträge der Teilnehmer aus den Bereichen Musikwissenschaft, Theologie und Geschichte einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 106 gedruckte (und eine handschriftliche) Orgelpredigten bilden die Grundlage für dieses Projekt. Mittlerweile sind diese in einem Internet-Portal (https://orgelpredigt.ur.de) verfügbar, bestens aufbereitet, verschlagwortet und kommentiert. Darüber hinaus ist das Portal mit zahlreichen anderen externen Online-Ressourcen (z. B. DNB, Wikipedia, MGG Online) verknüpft.
„Orgelpredigten“ wurden normalerweise gehalten, wenn eine neue Orgel in einer Kirche zum ersten Mal in Betrieb genommen wurde. Dieses kam in allen Arten von Gemeinden vor, klein und groß, ländlich oder städtisch assoziiert. Dementsprechend war auch die theologische Potenz der Prediger von unterschiedlicher Qualität. Nur von wenigen, die im kirchlichen Bereich Karriere gemacht haben, sind mehr als eine Orgelpredigt überliefert. Formal orientieren sie sich zumeist deutlich am rhetorischen Kanon der Zeit. Inhaltlich spielen theologische Ausprägungen einzelner evangelischer Richtungen eine große Rolle, aber auch regionale Gewohnheiten und Eigenheiten. Bedeutsam ist hier die Frage, um was für eine Art von Veranstaltung es sich überhaupt handelt: eine Weihehandlung, eine (eher formale) Indienststellung etc.? Und: Wie ist das Verhältnis von Musik und Gottesdienst? Welche Aufgabe haben die jeweiligen Orgeln im Gottesdienst?
Die Beiträge des Bandes sind in drei große Hauptkategorien untergliedert: 1. Die Orgelpredigt zwischen Musiktheorie und Theologie, 2. Fallstudien: Orgelpredigten im deutschsprachigen Raum, und 3. Orgelpredigten aus Europa und Übersee (Niederlande, Frankreich, Schweden, England. USA). – Tagungsbände können langweilig sein – dieser ist es ausdrücklich nicht! Er sei deshalb auch denjenigen anempfohlen, die in der Gemeinde Verantwortung für Orgelmusik (im Sinne von Kirchenmusik/musica sacra) tragen. Viele in den Predigten vorkommenden musikalischen und theologischen Überlegungen können auch über die Zeiten hin bis in die Gegenwart einen wertvollen Beitrag zu einer immer wieder notwendigen Diskussion über Sinn und Unsinn von bestimmten Einstellungen gegenüber gottesdienstlicher (Orgel-) Musik leisten.
Ralf-Thomas Lindner