Werke von Camille Saint- Saëns, Guillaume Connesson, Léon Boëllmann, Alfreds Kalnins, Vincent Dubois, Gioacchino Rossini, Benjamin Britten, Sigfrid Karg-Elert, Ilja Völlmy Kudrjavtsev und Edward Elgar
Orgelfestival im Stadtcasino Basel 2020
Thomas Trotter, Vincent Dubois, Olivier Latry, Iveta Apkalna, Martin Sander, Babette Mondry, Matthias Wamser, Ilja Völlmy Kudrjavtsev, David Blunden u. a.
Bewertung: 5 von 5 Pfeifen
Die kurze Phase spätsommerlicher Freiheit in der Pandemie bescherte der Stadt Basel im September 2020 ein besonderes Orgelereignis: Mit rund dreißig Organist:innen aus aller Welt und unter Beteiligung von Kammer- und Sinfonieorchester Basel, den Basler Madrigalisten und den unterschiedlichsten Ensemble- und sogar Tanzformationen wurde im Rahmen des ersten Orgelfestivals im Stadtcasino Basel die neue Konzertsaalorgel eingeweiht.
Das Instrument – eine Gemeinschaftsarbeit der Schweizer Orgelbaufirmen Metzler und Klahre (III/ P/56) – wurde als symphonisch ausgerichtet konzipiert. Es weist in seiner Disposition sowohl französisch-symphonische Charakteristika auf, so ein Récit expressif, als auch den Stil der Orgeln englischer Town-Halls (ein Orchestral Swell nebst Tuba) – im bestehenden denkmalgeschützten Gehäuse von 1905 und mit zwei flexiblen Spieltischen: Der zweite Spieltisch kann frei auf der Bühne positioniert werden. Außerdem verfügt die neue Orgel über ein winddynamisches Werk, mit dem der Klang durch frei regulierbaren Winddruck und andere einstellbare Parameter auch noch nach dessen Anschlag beeinflusst werden kann – und das gänzlich neuartige, unerwartete Klänge und Klangkombinationen hervorrufen kann.
Die drei CDs präsentieren Ausschnitte aus diesem ersten Festival – und erwecken (dies sei vorausgeschickt) durchaus den Wunsch nach mehr. Dabei wurde weitgehend unbekanntes Repertoire so elegant wie wirkungsvoll kombiniert mit neuen Einspielungen von vertrauter, doch meist eher ungehörter Literatur.
Olivier Latry liefert die „Toccata“ aus Boëllmanns Suite gothique kongenial ab, und die Orgelsymphonie von Camille Saint-Saëns mit Thomas Trotter und dem mitreißend aufspielenden Basler Sinfonieorchester unter Ivar Bolton stellt die Anpassungsfähigkeit des neuen Instruments an die Erfordernisse im Zusammenspiel mit einem Orchester eindrucksvoll unter Beweis. Der britische Organist spielt darüber hinaus eine gleichsam überzeugende wie virtuose Transkription der berühmten Ouvertüre zu Rossinis Wilhelm Tell aus der Feder Edwin Henry Lemares – als Hommage an die „englische Seite“ der Metzler-Orgel, so wie der Imperial March von Edward Elgar, komponiert zum 60. Thronjubiläum von Queen Victoria und hier beispielhaft interpretiert von David Blunden. Besonders wertvoll wird die Kompilation durch diese und andere, noch entlegenere Werke: So steht die interessante Fantasie in G des lettischen Komponisten Alfrēds Kalniņš (1879–1951), fesselnd interpretiert von Iveta Apkalna – die das Eröffnungskonzert des Festivals bestritt –, beziehungsreich neben den selten aufgeführten Dialogen für Klavier und Orgel aus den Poesien op. 35 seines unmittelbaren Zeitgenossen Sigfrid Karg-Elert in einer Aufführung mit Matthias Wamser und Kiyomi Higaki und erlaubt einen direkten Vergleich der Klangwelten dieser singulären Komponistenpersönlichkeiten (der zu erstaunlichen Übereinstimmungen führen kann). Aber auch Schweizer Komponisten sind vertreten, so Ernest Bloch mit einem klangvollen Präludium, der Basler Rudolf Moser (1892–1960) mit einer sperrigen Rhapsodie, und der 1982 in St. Petersburg geborene Ilja Völlmy Kudrjavtsev, dessen spannendes und klangvolles Tryptichon der Komponist selbst eingespielt hat.
Neben dem einen oder anderen solistischen Fundstück glänzt die CD-Box vor allem mit zwei Kompositionen für Orgel und (Kammer-)Orchester, an die alle an Musik für diese Besetzung Interessierten nachdrücklich verwiesen seien: Das Concerto da Reqiuem des 1970 geborenen Guillaume Connesson für Orgel und Orchester war ein gemeinsamer Kompositionsauftrag des Festivals und der Tonhalle-Gesellschaft Zürich und ist nicht nur in formaler Hinsicht bemerkenswert. Die Komposition ist ein genuines Orgelwerk, das Elemente des ihm zugrundeliegenden Chorals zu einer expressiven wie konstruktiv überzeugenden Klangsprache verarbeitet. Die klangschöne Bearbeitung von Camille Saint-Saëns’ Cyprès et Lauriers für Orgel und Kammerorchester – hier interpretiert von Martin Sander und dem Kammerorchester Basel unter Pierre Bleuse – gehört zu den Höhepunkten des Überblicks: Das Werk zum Gedenken an den Sieg der Alliierten im Ersten Weltkrieg ist in der Orchesterfassung von Eberhard Klotz nochmals eindringlicher als in der originalen Orgelfassung und gewinnt diesem gegenüber erheblich an Transparenz.
Erfreulicherweise dient die CD-Kompilation auch dazu, die Breite der künstlerischen Beiträge des Festivals in Basel nachzuhalten – unter anderem mit der Einspielung einer kongenialen Improvisation von Vincent Dubois über Mozarts Andante C-Dur KV 515 auf der Flûte Jacqueline – benannt nach Jacqueline Albrecht-Iselin, ohne die die neue Orgel in Basel kaum ermöglicht worden wäre – und unter Ausnutzung des winddynamischen Werks der Orgel. Darüber hinaus erklingt die Orgel als Kammermusikinstrument: in zwei rumänischen Kompositionen für Taragot (ein klarinettenartiges Instrument der südosteuropäischen Folklore) und in Milonga del Angel von Astor Piazzolla sowie im Jazz-Standard Spain von Chick Corea mit Band, mitreißend von Nikolai Geršak und seiner „Nikolai’s Lindy Dreamband“ musiziert.
Aber auch geistliche Kompositionen erhielten im Programm einen Ort – und auf einer der drei CDs, die allesamt in Hinsicht auf die Aufnahmetechnik höchsten Ansprüchen genügen: So wurde die selten aufgeführte Kantate Rejoice in the Lamb für Chor, vier Solisten und Orgel, die Benjamin Britten mitten im Krieg 1943 für die St. Matthew’s Church in Northampton komponierte, gemeinsam mit seinem schönen Jubilate Deo für Chor und Orgel von 1961 aufgenommen. Die Basler Madrigalisten führen die mit ihnen gemeinsam musizierenden Jugendchöre der Basler Musikschule und der Musikakademie zu einer Spitzenleistung – und beide Kompositionen lassen sich mühelos in Bezug setzen zu den hier gleichfalls präsentierten, von der israelischen Folklore beeinflussten Observations on a Yemenite Song des in Berlin geborenen und nach Palästina geflohenen Komponisten Haim Alexander (1915–2012).
Fazit: Nicht nur für Orgelenthusiast:innen ein Fundus. Fortsetzung erbeten!
Birger Petersen