Orgel vierhändig

Igor Strawinsky: Der Feuervogel / Modest Mussorgsky: Bilder einer Ausstellung. Viviane Loriaut, Guy Bovet, Orgel

Verlag/Label: Gallo GAL-CD-1539
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/02 , Seite 63

4 von 5 Pfeifen

Die Ballettmusik zum Feuervogel von Igor Strawinsky begleitete Guy Bovet, wie er im Booklet vermerkt, seit Kindestagen, ja, er versuchte bereits als Jugendlicher, eine Orgelfassung zu schaffen, die jedoch an ihrer Unspielbarkeit scheiterte. Angesichts der üppigen Fülle und Finesse dieser 1909/10 für ein Riesen­orchester instrumentierten Musik (Bovet spielt nicht die gekürzte Fassung der Ballettsuite von 1945) ist das kein Wunder.
Bovets vierhändige Orgelfassung wurde an der großen Orgel der Hofkirche St. Leodegar in Luzern eingespielt. Das 1648 von Johann Geisler erbaute und 1862 von Fried­rich Haas erweiterte Instrument wurde 1972–77 durch Orgelbau Kuhn umgebaut, restauriert und vergrößert. Im Prospekt von 1648 steht übrigens die größte (9,7 Meter), schwerste (383 kg) und älteste Orgelpfeife der Welt. 84 Register sind auf Schleifladen (Fernwerk: Kegelladen) in fünf Manualwerke und das Pedal gegliedert. 2015 wurde auf der nördlichen Chorgalerie noch ein schwellbares Echowerk mit 24 Registern, zum Teil unter Hochdruck, hinzugefügt. Im Fernwerk, auf dem Dachboden integriert, steht die weltweit einzige bekannte Regenmaschine (Blech-Holztrommel mit Metallkugeln), 1862 von Friedrich Haas erbaut und original erhalten. Die drei von Haas erbauten durchschlagenden Zungenregister wurden im Jahre 2001 restauriert und in die Tonhalle (Fernwerk) eingebaut.
Das Rieseninstrument mit seinem ungeheuren Klangfarbenreichtum, der im kathedralartigen Raum der Hofkirche verteilt ist, ist geradezu prädestiniert, die Adaption eines Werks wie des Feuervogel zum Klingen zu bringen. Die Klarheit der Kuhn’schen Intonation aus den 1970er Jahren kommt der Durchhörbarkeit der Komposition dabei bes­tens entgegen.
Da ich das Glück habe, diese Orgel sehr gut zu kennen, hat es mir große Freude gemacht, anhand der Partitur zu verfolgen, wie die beiden Interpreten die Orchesterinstrumente durch die Orgelregis­ter eben nicht nachahmen, sondern kreativ umsetzen. Viviane Loriaut ist Organistin an der Kathedrale von Evreux und Professorin am Pariser Konservatorium CRR. Sie erhielt ihre Ausbildung am Konservatorium in Marseille, dann bei Marie-Louise Langlais, Michel Chapuis und Guy Bovet. Guy Bovet wiederum war Orgelschüler von Marie Dufour in Lausanne, Pierre Segond in Genf und Marie-Claire Alain in Paris. Von 1979 bis 1999 unterrichtete er spanische Orgelmusik an der Universität von Salamanca. Er war Pro­fessor an der Musikhochschule Basel und unterrichtete daneben an zahlreichen anderen Institutionen und Universitäten. Bovet setzt sich insbesondere für die Erhaltung historischer Orgeln ein; so wirkt er als Experte für Projekte in Europa, Mexiko und im Fernen Osten.
Im Gegensatz zur unglaublich farbigen und inspirierten Einspielung des Feuervogel empfinde ich die vierhändige Version von Modest Mussorgskis Bilder einer Ausstellung als flacher, wenig subtil, statisch im Klang und in der Ausführung. Sie erinnert mich absolut nicht an die im Booklettext beschriebene Anlehnung dieser Transkription an die Ravel’sche Orches­terversion.
Das dreisprachige Book­let ist informativ und mit zahlreichen Bildern gestaltet. Die Aufnahmetechnik präsentiert die Hauptorgel sehr klar und direkt, Fern- und Echo­orgel dagegen etwas abseits. Bei der mir vorliegenden CD machten sich allerdings, besonders bei lange liegenden Tönen in verschiedenen Solostimmen oder Akkorden, unregelmäßige Lautstärkeschwankungen bemerkbar.
Im Chorraum der romanischen Stiftskirche von Romainmôtier, einer der frühesten Klostergründungen der Schweiz im Kanton Waadt, befindet sich ein 1938 von Casimir Reymond ausgeführtes großes buntes Glasfenster, auf dem wichtige Szenen aus dem Leben Jesu dargestellt sind. Der örtliche Pfarrer bat Guy Bovet, diese Bilder in Orgelmusik auszudrücken und zu deuten. Bovets 13 kurze vierhändige Charakterstücke beziehen sich auf die jeweiligen im Kirchenfenster dargestellten Lebensstationen Jesu, sind aber dem Instrument der Stiftskirche genauso „auf den Leib geschrieben“. Die viermanualige Orgel, deren Disposition mit 36 Regis­tern von barocken französischen und spanischen Vorbildern beeinflusst ist, wurde von der Manufacture d’orgues St.-Martin bei Neuchâtel (Neidhardt & Lhôte) erbaut; sie stammt aus dem Jahr 1971, als Georges Lhôte der führende Kopf des Unternehmens war. Frische Farben, kräftige Pleni und Zungen sowie gute Durchhörbarkeit kennzeichnen das schulebildende Instrument. Einzig die Stimmung einiger Zungen wäre zum Zeitpunkt der Aufnahme verbesserungswürdig gewesen.
Die 13 Teile „Geburt – Bei den Schriftgelehrten – Die Auferstehung des Lazarus – Jesus und die Samariterin – Gethsemane – Festnahme Jesu und Prozess – Kreuzweg – Kreuzigung – Auferstehung [im Fens­ter nicht abgebildet, doch vom Komponisten als unverzichtbar in Töne gesetzt] – Maria Magdalena – Himmelfahrt – Die Gabe des Geis­tes – Er erwartet uns in seiner Pracht“ sind in einheitlicher Tonsprache unter Verwendung von eigenen modalen Strukturen, Choralzitaten und den Personen zugeordneten wiederkehrenden Themen eindringlich und konsequent gestaltet. Überzeugende Kontraste, lo­gisch registrierte Klanggebung und klare, kleine Formen geben Eindrü­cke der Glasbilder wieder. Die einzelnen Teile dauern jeweils zwischen 2 und 3 ½ Minuten und eignen sich hervorragend für Meditationen mit Textlesungen dazwischen.
In den zwölf Miniaturen seines Don Quixote ist öfters der Schalk in Guy Bovet zu erkennen, ein feiner Witz, den er in vielen anderen seiner Kompositionen zu versprühen vermag. Die erste Fassung dieser Szenen aus dem berühmten Roman von Cervantes entstand 2011 für die gotische Orgel in Rysum (Ostfriesland) und wurde später vierhändig für ein modernes Instrument umgeschrieben. Naiv deskriptive, tänzerisch ausgelassene, anmutig dahingleitende, bernsteinnesque popartige Ausgelassenheit und freche Zitate vermittelt der Meister der kleinen Form in diesen Epigrammen. Diese Stücke sind herzerfrischend gelungen und eignen sich zur Kombination mit Lesungen der betreffenden Textpassagen.
Stefan Kagl