Jean Guillou

Organ Works Vol. 1

Zuzana Ferjenčíková an der Stahlhut/Jann-Orgel von St. Martin in Dudelange (Luxemburg)

Verlag/Label: SACD, Dabringhaus und Grimm, MDG 906 2089-6 (2018)
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/03 , Seite 61

Bewertung: 4 von 5 Pfeifen

Welch eine grandiose Idee, das Gesamtwerk des letzten, großen Magiers der Orgelwelt, Jean Guillou, aufzunehmen. Das Vorhaben bekam jedoch traurige Aktualität, nachdem der Komponist, Orgelvirtuose, Organologe, Visionär und Klangzauberer am 26. Januar 2019 in Paris verstarb.
Jean Guillou studierte am Pariser Konservatorium unter anderem bei Marcel Dupré, Maurice Duruflé und Olivier Messiaen. Von 1955 bis 1958 unterrichtete er am Pontifício Insti­tuto de Música Sacra in Lissabon (Portugal), und ab 1958 wirkte er einige Zeit in Berlin. 1963 wurde er Nachfolger von André Marchal als Titularorganist an Saint-Eustache, Paris, und unterrichtete von 1970 bis 2005 bei den jährlichen Zürcher Meisterkursen Künstlerisches Orgelspiel und Improvisation.
Der Meister war bis zuletzt als bejubelter Konzertorganist, der liebend gerne etablierte Hörgewohnheiten mit seinen „gegen den Strich gebürsteten Interpretationen“ aufs Korn nahm, live zu hören. Mit Zuzana Ferjenčíková wurde eine kongeniale Musikerin für dieses Vorhaben gewonnen. Sie stammt aus der Slowakei und studierte u. a. in Bratislava bei Ján Vladimír Michalko und in Wien mit Peter Planyavsky, doch es sind vor allem der Unterricht bei und die Zusammen­arbeit mit Jean Guillou, welche sie geprägt haben. Sie bekam mehrere Preise bei internationalen Wettbewerben und hat 2004 als erste Frau den ersten Preis beim Internationalen Orgelimprovisationswettbewerb in Haarlem gewonnen.
Zuzana Ferjenčíková arbeitet als Stiftsorganistin der Benediktinerabtei „Unserer Lieben Frau zu den Schotten“ in Wien und unterrichtete Orgel und Orgelimprovisation an der Hochschule für Musik in Bratislava. Ihre CD beginnt fulminant (wie anders bei dem Maître auch nicht zu erwarten) mit Fantaisie op. 1 (1954), Säya (L’Oiseau bleu) op. 50, Poème sur un air po­pulaire coréen (1993) und Hymnus op. 72 (2008) in memoriam P. Jaap Reuten.
Guillous „offizielles“ opus primum Fantaisie, seinem Maître Dupré gewidmet, manifestiert gleichsam die Quintessenz dessen, was er zeit­lebens in seiner Musik ausdrü-cken wollte: Es ist ein poetischer Dialog voll packender Dramaturgie, Diskussion und Konfrontation gleichermaßen. Säya (der mythische Vogel) opus 50 hatte seinen Ursprung in einer Improvisation, die Guillou 1992 in Korea spielte. Das Stück ist eine verträumt poetische Variationsfolge über ein populäres koreanisches Motiv. In Hymnus op. 72 steht eine Art antike Anrufung, die sich in kathedralartigen Räumen entfalten kann und an weit zurückliegende Zeiten erinnert, im Mittelpunkt, die weiteren auftretenden „Figuren“ kontrastreich entgegengestellt wird.
Die Bilder einer Ausstellung nach Mussorgsky in der Bearbeitung von Jean Guillou aus dem Jahre 1988 stellen eigentlich eine umgearbeitete Neuversion dar, denn Guillous Feder kannte keine Tabus in Richtung Originaltext: Vollkommen andere Phrasierungen, Artikulationen, Tempi, virtuose Ergänzungen, Gegen- und Begleitstimmen, ja sogar neu komponierte Überleitungen zeugen vom kreativen Umgang mit Mussorgskys Musik und schaffen damit ganz neue Dimensionen und Einblicke – Wirkungen, die den epochalen Weltschlager teilweise anders beleuchten, als man es gewohnt ist. Das wollte Guillou auch zeitlebens als reproduzierender Musiker! Für mein Verständnis kommt das perkussive Element (u. a. „Il vecchio castello“) bisweilen zu kurz, und ich empfinde das Staccato stellenweise als zu extrem, doch das genau intendiert der Maître! Zuzana Ferjen­číkovás Spiel dieser Aufnahme war mit Jean Guillou selbst noch aufs Feinste abgestimmt und kann als kongenial betrachtet werden.
Der Ursprung der 2001/2 durch die Firma Thomas Jann renovierten und umgebauten Stahlhuth-Orgel geht auf das Jahr 1912 zurück. Mit 45 Registern auf pneumatischer Kegellade hatte sie eine breite Palette deutscher Grundstimmen und zwei Starktonregister. Einige Zungenstimmen aus einer Pariser Pfeifenmanufaktur und als Anglizismus eine Hochdrucktuba waren verteilt auf Hauptwerk, schwellbares Positiv, Schwellwerk und Pedal. Nach einer in den 1960er Jahren üblichen Neobarockisierung wurde das Instrument renoviert, die originalen Register wieder hergestellt und rekonstruiert, Schwellwerke und Technik erneuert, die Veränderungen aus den 1960ern rückgängig gemacht und mit elektropneumatischer Traktur im europäisch-symphonischen Sinne mit einem Chamadewerk auf 78 Register vergrößert.
Die mit ansprechender Booklet-Gestaltung (dt., engl., frz.) versehene Produktion macht große Lust auf Fortsetzungen.

Stefan Kagl