Scheidemann, Heinrich

Organ Works

Joseph Kelemen an der Norddeutschen Orgel der Örgryte nya kyrka in Gothenburg

Verlag/Label: Oehms Classics OC 682 (2011)
erschienen in: organ 2012/01 , Seite 56

4 von 5 Pfeifen

Heinrich Scheidemanns Musik wurde im Nachhinein von Mattheson als „angenehm“ und „lieblich“ charakterisiert. Doch manches kürzere Präludium, das mit schöner Regelmäßigkeit in einschlägigen Sammlungen begegnete, mochte diesen Eindruck auf Anhieb vielleicht nicht so recht bestätigen.
Umso erfreulicher, dass Joseph Kelemen mit der vorliegenden CD eine überzeugende Lanze für Scheidemann bricht. Der schöne Querschnitt Scheidemann’scher Werke (Praeambula in G und d, „Erbarm dich mein“, „Jesus Christus, unser Heiland“, „Surrexit pastor bonus“, „Wir glauben all“, „Vom Himmel hoch“, Canzon in F, Toccata in G und die Paduana Lachrymae) lässt zum Glück jedwede unsinnliche Tro­­ckenheit gänzlich vermissen, die ihm zu Zeiten der Orgelbewegung bisweilen etwas leichtfertig unterstellt wurde. Die abwechslungsreiche Programm­gestaltung mit freien und choralgebundenen Werken geht einher mit einem Kaleidoskop hinreißender expressiver Klangfarben.
Die vom Interpreten für seine Einspielung ausgewählte Arp-Schnitger-Rekonstruktion im schwe­dischen Göteborg erinnert nicht allein optisch an das Hamburger Vorbild von St. Jacobi, sondern steht dem historischen Vorbild auch in Sachen Ausdruck und Farbigkeit kaum nach. Anhand der ausgezeichneten Dokumentation im Booklet kann der Hörer alle Regis­trierungen nachvollziehen, und man staunt darüber, wie wunderbar sich z. B. im ersten Vers von „Erbarm’ dich mein“ die Bahrpfeiff mit der Pedaltrompete mischt. Überhaupt erweist sich die Orgel als ein nachgerade ideales Medium für Scheidemann, der in St. Katharinen über ein ähnlich großes Instrument verfügte. Kelemen geht mit interpretatorischer Akribie vor und weist sogar auf Registrierungen hin, die an Scheidemanns Orgel so nicht zu realisieren waren.
Die gleiche Sorgfalt und Genauigkeit kennzeichnet Kelemens Orgelspiel. Ruhe und großer Atem prägen die eindrücklichen Interpretationen in ganz besonderer Weise. An manchen Stellen hätte man sich vorstellen können, den sehr kultivierten Anschlag im Sinne eines strukturierten Legato zuguns­ten einer spitzeren Leggiero-Artikulation zu verlassen, um so die kapriziösen Elemente des kontrastreich-verspielten norddeutschen Stils noch deutlicher herauszustellen. Solche Wünsche bleiben allerdings angesichts der hier dargebotenen, ganz hervorragenden Leis­tung des Interpreten marginal.

Axel Wilberg