Werke von Pachelbel, Bach, Mendelssohn Bartholdy, Liszt, Widor, Vierne, Jongen, Karg-Elert und Prizeman

Organ Classics from King’s College

Stephen Cleobury an der Orgel der King’s College Chapel in Cambridge (UK)

Verlag/Label: Alto ALC 1401 (2019)
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/04 , Seite 62

Bewertung: 4 von 5 Pfeifen

„Sir Stephen Cleobury“ durfte sich der am 22. November verstorbene Organist und Chorleiter nennen, der 37 Jahre als Director of Music am Elite-College gewirkt hat und den weltberühmten „Choir of King’s College“ zu einer eigenständigen „Marke“ für allerhöchsten Chorstandard geformt hat. Wie bei den meisten seiner Kollegen stand zwar das Dasein als konzertierender Organist immer etwas im Schatten der Chorleitertätigkeit, nicht aber die künstlerische Qualität des Orgelspiels.
Wer die persönliche Bekanntschaft mit Stephen Cleobury gemacht hat, wusste neben dem exzellenten Musiker auch und vor allem seine bescheidene, zurückhaltend-höfliche Art zu schätzen, ein Mus­terbeispiel an „understatement“, eine lobenswerte Eigenschaft, die man sich bei kontinentaleuropäischen Künstlern nicht selten wünscht.
Eben jene Eigenschaft ist es denn auch, die vorliegender CD uneingeschränktes Lob einbringt. So unspektakulär, so „abgenutzt“ das hier eingespielte Repertoire auch sein mag, so spektakulär entfaltet sich die Musik in der eher unprätentiösen Herangehensweise Cleoburys. Man mag seinen Stil vielleicht als karg und gelegentlich allzu nüchtern empfinden, aber gerade damit stellte er sich ohne Kompromisse voll und ganz in den Dienst der Musik. Die Werktreue als authen­tische Wiedergabe der Partitur ist gleichsam der rote Faden dieser Einspielung, und da hatte für Stephen Cleobury der exzentrisch-manierierte Künstler keinen Platz. Ebenso weit aber er weist er akademisch totes Sezierertum von sich. Die einzelnen Werke sind im wahrsten Sinne spannend, mit übergreifenden Bögen musiziert, fein im Detail ausgearbeitet, ohne sich jedoch in kleinteiligen Sequenzen zu verlieren. Ebenso lebendig wie organisch fließende Tempi verleihen der Musik zudem eine noble Grandezza und lassen selbst bei den „abgedroschensten“ aller Orgelwerke, Bachs Toccata und Fuge d-Moll sowie Widors F-Dur-Toccata, neu, ja geradezu entspannt hinhören.
Leider handelt es sich bei dieser CD „nur“ um eine Neuauflage einer bereits 1994 beim Label Collins Classics erschienenen Aufnahme un­ter dem Titel The Splendour of King’s – Essential Organ Favourites. Wie der ursprüngliche Titel wohl zu Recht vermuten lässt, eine Produktion, die mehr als nur das spe­zifische Fachpublikum ansprechen sollte. Und da sind sicherlich gewisse „Köder“ legitim – sofern man sich dafür nicht zu schade ist (was eben auch die Größe Cleoburys ausmacht). Aber selbst für Kenner der Materie gibt es Erfreuliches zu entdecken, denn wo hört man schon in Einspielungen oder Konzerten der „Großen“ so schlichte Choralvorspiele wie „Herzlich tut mich verlangen“ oder „In dulci jubilo“ aus dem Orgelbüchlein? Das scheinbar Kleine wird unter den Händen und Füßen von Cleobury unerwartet zum eigentlichen Großen dieser Aufnahme. Virtuosität ist eben mehr als Geschwindigkeit und halsbrecherische Akrobatik. In diesem Sin­ne ist die Musik, ist das Spiel von Cleobury nachhaltig, da absolut wahrhaftig und ohne fahlen Beigeschmack.

Wolfgang Valerius