Marco Enrico Bossi

Opera omnia per organo, vol. XIII

Andrea Macinanti an der Cavaillé-Coll-Orgel von Saint-Antoine-des-Quinze-Vingts, Paris

Verlag/Label: Tactus, TC 862722 (2018)
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/01 , Seite 62

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Marco Enrico Bossi (1861–1925) war einer der einflussreichsten Erneuerer der Orgel- und Kirchenmusikszene um und nach 1900 in Italien. War doch die Basis der italienische Orgelbautradition das traditionelle „Ripieno“, dem zu Anfang des 19. Jahrhunderts weitere sogenannte „Registri di concerto“ hinzugefügt wurden. All diese Soloregister waren nur entweder in der Bass- oder Diskanthälfte ausgebaut, um zu ermöglichen, dass auf dem einzigen Manual eine Solo-Melodie sowie deren Begleitung in zwei verschiedenen Klangebenen spielbar wurden. Ausschlaggebend für diese Gegebenheiten war die Musik, die zu dieser Zeit auf solchen Orgeln gespielt wurde: Rossini, Donizetti und Verdi; die Oper, das Melodrama und der Belcanto beherrschten das allgemeine musikalische Geschehen, auch in der Kirche.
Kein Geringerer als der Franzose Camille Saint-Saëns versuchte sich mit solch einer Orgel im Konservatorium von Mailand an Bachs Präludium und Fuge D-Dur BWV 532 und löste so eine Generaldebatte über das zukünftige Wesen der italienischen Orgel und darauffolgend auch der dortigen Kirchenmusik aus, die Bossi tatkräftig beförderte. Er selbst war weitgehend organistischer Autodidakt und verzichtete konsequenterweise auf ein Examenszeugnis auf einer solcherart konstruierten Orgel, das seinem Organistenideal sowieso nichts gebracht hätte. Befreundet und gefördert u. a. von Puccini und Verdi war jedoch Richard Wagner seine musikalische Jugendliebe, dessen Opernaufführungen ihn Anfang der 1870er Jahre in Bologna nachhaltig beeindruckten.
Auch zu Kriegszeiten, in denen „Germanisches“ zunehmend unbeliebt war, pflegte er, trotz seiner immanenten „Italienitá“, eine Neigung zum „gequälten klanglichen Gewebe“ wagnerisch-deutscher Ausprägung, wie es der Musikwissenschaftler Federico Mompellio charakterisierte. So bestimmt Richard Wagner auch die Hauptpartie dieses Teils einer äußerst verdienstvollen Gesamtaufnahme der Orgelwerke des unvergessenen virtuosen Orgelpaps­tes Italiens, Marco Enrico Bossi.
Andrea Macinanti wählte dafür klug eines der prädestiniertesten Instrumente aus: die Orgel (47/III/P) von Saint-Antoine-des-Quinze-Vingts in Paris, die Aristide Cavaillé-Coll 1894 ursprünglich als Neubau für den sagenumwobenen Baron Albert de l’Epée für dessen Pariser Privatresidenz in der Avenue des Champs-Elysées errichtet hatte und die 1907 in die Kirche transferiert wurde. Sie war nur eines der „mittleren“ Instrumente des exzentrischen Barons, jedoch (mit zwei Schwellwerken und einem bis c’’’’ ausgebauten Manualambitus bei durchweg hohen Winddrücken) zuerst dafür gebaut, Richard Wagners Musik anhand entsprechender Transkriptionen klanglich effektvoll in Szene zu setzen.
Neben den Wagner-Bearbeitungen eines kongenial überzeugenden Potpourris aus dem Parsifal sind hier das Gebet der Elisabeth aus Tannhäuser, Auszüge aus Das Liebesmahl der Apostel, Bearbeitungen aus den Wesendonck-Liedern Im Treibhaus und Träume zu hören. Des Weiteren erklingen auf der vorliegenden Aufnahme von Händel dessen „Adagio“ aus dem Orgelkonzert op. 4 Nr. 3, das „Andante variato“ aus dem Orgelkonzert op. 4 Nr. 1, Debussys La jeune fille aux cheveux de lin und Saint-Saëns’ Danse macabre op. 40.
Macinantis Spiel ist musikalisch und technisch durchweg solide, seine Registrierungen halten sich soweit wie möglich an das Original, seine Tempi erscheinen im bewegten Bereich oft etwas zögerlich, dafür ist die musikalische Partitur aufnahmetechnisch perfekt durchhörbar eingefangen, ohne dabei auf Raumklang zu verzichten. Das Booklet (italienisch/englisch) ist mit Macinantis Texten informativ gestaltet.
Der Repertoirewert dieser Aufnahme wie der gesamten Reihe dieser Kompletteinspielung ist nicht nur für „Wagnerianer“ kaum zu unterschätzen, war Bossi zu seiner Zeit nicht nur in Italien und weltweit, sondern besonders in Deutschland hoch geschätzt. Seine Kompositionen brachten hiesigen Verlegern seinerzeit mehr Gewinne ein als etwa die Brahms’schen Werke, und der Leipziger Thomanerchor sang Bossis Inno Di Gloria op. 76/A für gemischten Chor gleich nach dessen Entstehung. Bleibt zu wünschen, dass die Reihe dazu beiträgt, das Werk Bossis auch hierzulande wieder mehr ins Bewusstsein zu rücken.

Stefan Kagl