Biagio Putignano

Noten von Biagio Putignano

Desiderium animæ (2004) für Orgel | Tre pezzi sacri (2012) für Sopran und Orgel | Carteggio spirituale (2017) für Orgel | Tavole di Luminositá (2016) für Orgel

Verlag/Label: edition gravis, eg 2576, eg 2386, eg 2573, eg 2383
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/01 , Seite 58

Es ist eine besondere Ehre (und Freude), Stücke eines Komponisten zu rezensieren, der sein Orgelschaffen als Edition im Gesamten vorlegt. Hier lassen sich Brüche erkennen, neue Ideen und Erzählstränge finden, die sich über die Jahre verändern. Ein weiterer Aspekt ist die Ideenfindung der Kompositionen, die sich erst in einer Gesamtschau erkennen lässt. Sind die Stücke unterschiedlich? Folgen sie einer individuellen Idee? Oder entstehen sie in einheitlicher Tonsprache und setzen diese auf neue Weise fort?
Bei Orgelstücken stellt sich unweigerlich die Frage nach dem entsprechenden Instrument. Ist das Stück für einen speziellen Ort geschrieben, so finden sich manchmal detaillierte Angaben darüber im Notentext. Diese helfen bei der Übertragung auf andere Orgeln. Oft entstehen die Stücke für ein Festival oder einen Wettbewerb und sind zunächst an einen Ort gebunden. Insofern dokumentieren sie eine spezielle Stilistik, die sich aus den Möglichkeiten des individuellen In­struments ableitet. Die Grade dieser Ausdifferenzierung sind unterschiedlich. Manche Stücke lassen sich nur auf einem speziellen Instru­ment interpretieren, andere sind allgemeiner gehalten.
Es gibt keine Regel, wie sich ein Komponist zu diesen Gegebenheiten verhalten soll. Natürlich ist es für einen Interpreten wichtig, ein Stück auf verschiedenen Orgeln spielen zu können. Aber die genaue Differenzierung für ein spezielles Instrument hat ebenfalls ihren Reiz, denn dadurch offenbart sich mehr kompositorische Individualität.

Die bei der edition gravis erschienenen Orgelstücke von Biagio Pu­tignano (*1960) rekurrieren in unterschiedlicher Weise auf bestimmte Instrumente. Bei zweien ist die Disposition der Orgel abgedruckt. Alle Werke sind ausführ­liche Konzertstücke, die einen gewissen Übeaufwand verlangen. Ihre Entstehung erstreckt sich zeitlich über eine relativ kurze Epoche von 2004 bis 2017, alle herausgegeben von dem hervorragenden Organis­ten und Komponisten Pier Damiano Peretti, der die Werke auch auf einer CD eingespielt hat (Biagio Putignano: Organ Works / Codex Faenza. Pier Damiano Peretti an der Mathis-Orgel [1995] der Schottenkirche und einem neapolitanischen Positiv [Anonymus 18. Jh.] in St. Ursula in Wien; Marie-Antoinette Stabentheier, Sopran; Tactus TC 961602).

2004 schrieb Putignano Desiderium animæ. Entstanden ist die Komposition für das Internationale Orgelfestival  Selva di Fasano in Brindisi. Oftmals verlangen moderne Musikstücke eine große Konzertorgel – das besprochene Werk bezieht sich auf das Gegenteil: Komponiert wurde für eine kleine Orgel, die mit mechanischen Schleifen ausgerüstet ist. Die zweimanualige Uraufführungsorgel wird durch den Zug halber Schleifen klanglich-tonal ausdifferenziert. Die Partitur zeigt an, inwieweit die Register ausgezogen werden sollen. Um dies zu verdeutlichen, verwendet der Komponist unterschiedliche Notenköpfe. Zunächst gibt es das Kreuz, was bedeutet, dass das Register kaum gezogen ist. Eine Raute zeigt einen Mittelzustand an. Ein vollständiger Notenkopf bedeutet, dass das Re­gis­ter ganz herausgezogen ist.
Bei anderen Stücken wird dies oft in langsamem Tempo ausgeführt, nicht so bei Putignano. Die Musik besteht aus sehr kurzen Notenwerten. So beginnt die Orgel zu wispern und zu flüstern und spricht mit den halben Schleifen wie in tuschelnder Sprache. Der gesamte erste Teil ist diatonisch notiert. Dadurch schimmert eine harmonische Farbe durch die Musik. Erst im späteren Verlauf gesellt sich Vieltönigkeit hinzu, an Berios Fa-Si erinnernd, drängend und fortschreitend. Gegen Ende türmen sich Wechselfiguren auf. Die Musik fällt wieder in die Diatonik und verschwindet in rasender Geschwindigkeit wispernder Pfeifen.

Für das Festival Musica Sacra „Super Flumina“ 2012 in Mailand schrieb Putignano seine Tre pezzi sacri für Sopran und Orgel. Anders als beim zuvor besprochenen Werk spielt die Art der Orgel hier keine größere Rolle. Die Notation lässt sich auch mit elektrischer Registertraktur bewältigen. „Vidi aquam“ fließt in pentatonischen Figuren; der Sopran durchbricht dieses Prinzip. Ein „Requiem“ beschränkt sich auf monotone Rhythmik im 5/16-Takt. Teilweise gibt es freie Passagen, die quasi neogregorianisch Notenköpfe ohne Hals beinhalten. Am Ende überrascht eine chromatische Rü­ckung des Ausgangsmaterials. „Alleluia. Lauda, Sion“ in herausreißendem Forte besticht durch rasante Läufe und Wiederholungen.

Tavole di Luminositá (2016) ist Olivier Messiaen gewidmet. So beginnt es nicht nur in typisch modalem Querstand, sondern wartet im ers­ten Satz „Cristal de Roche“ auch mit den berühmten Oktaven auf, die Messiaen beispielsweise reichhaltig im Zyklus Méditations sur le Mystère de la Saint Trinité benutzt. „Campanules“ enthält Staccato-Mixturen sowie wilde Läufe, ebenso „Arborescences“. „Spirales“ bleibt trioartig verschlungen und endet offen.

Das spätere Orgelstück Carteggio spirituale (2017) ist wieder einer speziellen Orgel zugeordnet, deren Disposition abgedruckt ist. Es handelt sich um die große Mathis-Hauptorgel der Schottenkirche in Wien. Im Plenum beginnt die J. S. Bach zitierende Musik (Fuge BWV 552). Aufbauende Akkorde werden mit kleinen Notenköpfen notiert, so dass dies besser lesbar ist. So setzt sich dieses wilde Tutti-Stück mit großspreizigen Pedalsoli, Halteklängen und Akkordkaskaden fort. Der ruhige Teil mit Rohrflöte 4’ und Céleste koloriert die Melodie mit kleinen Vorschlägen und Trillern. Die Manualwechsel spielen die Rolle von starker Treppendynamik. Es er­öffnet sich ein eindrucksvolles Orgelstück, das anders als die früheren Werke „ganz Orgel“ sein will und großgriffige Klangfarben vorträgt.

Abschließend zeigt sich, dass die vorgestellten Werke einerseits einer persönlichen Tonsprache folgen, andererseits liegt jeder Komposition eine individuelle Idee zugrunde, die Ort und selbst gesetzter Aufgabenstellung folgt. Spannend bleibt die unterschiedliche Nähe zum jeweiligen Vorbild-Instrument, die sich in der Einbeziehung von Spieltechniken und Registerangaben manifes­tiert. Es ist eine große Freude, dass sich der originelle Komponist Putignano der Orgel in so ausführlicher Weise widmet – ein ebensolcher Glücksfall ist die Zusammenarbeit mit dem Interpreten Pier Damiano Peretti.

Dominik Susteck