Johannes Matthias Michel
Missa Corona für Sopran und Orgel
„Führ uns an atomarer Nacht vorüber, hilf der Hoffnung auf.“ Wohl niemand würde diesen Satz im aktuellen Evangelischen Kirchengesangbuch (EG 431,2) vermuten. Die zentralen Begriffe, um die sich das Liedgut im EG dreht, sind zeitlos und geprägt von typisch christlichem Gedankengut wie Liebe, Güte, Gnade, Vergebung, Leben und Tod. Die Zeitlosigkeit der Lieder ist ihre Stärke, eines ihrer Überlebensmerkmale durch oft viele Jahrhunderte bis hinein in unsere neuesten Liedsammlungen. Nur ein einziger Satz im EG spricht von unserer Gegenwart, von der Jetztzeit und ihren sehr speziellen Themen.
Finden unsere Gegenwart und unsere Welt, in der wir leben, im Gottesdienst nur in der Predigt statt – der Predigt, die einen Bibeltext auslegen und ihn in unsere Sprache und unsere Zeit übersetzen soll? Wo steht die Orgelmusik, gar die ganze Kirchenmusik, wenn es um die Erhaltung und Bewahrung der göttlichen Schöpfung, die Erde, den Menschen und alle seine Probleme geht? Wo sind die gesellschaftlichen und damit letztlich christlichen Probleme des heutigen Menschen?
Schon die Titel der allermeisten Orgelkompositionen zeigen, dass weder Gott noch seine Schöpfung darin vorkommen: Präludium und Fuge, Toccata, Phantasie, Choralpartita usw. Manche Komponisten greifen zu abstrakten Titeln: Interferenzen, Volumina, Ludus Solemnis oder ASLSP (as slow as possible). Die reale uns umgebende Welt mit atomaren Katastrophen, Klimawandel, Ökokollaps und einer weltweiten Corona-Pandemie kommt hier nirgendwo vor. Vielleicht meint Joseph Kardinal Ratzinger diesen musikalischen Zustand, wenn er sagt: „Eine Kirche, die nur noch Gebrauchsmusik macht, verfällt dem Unbrauchbaren und wird selbst unbrauchbar.“
In der Edition Strube sind in den letzten Monaten einige Editionen erschienen, die diese Lücke füllen könnten und – das sei vorweggenommen – von denen man sich viel mehr wünscht. Beate Leibe eröffnet den Reigen mit einer guten alten christlichen Tradition: dem Lob, dem Schöpfungslob. Herfried Mencke thematisiert in seinen KlimaWolken ein schon lange immer wieder gern diskutiertes und trotzdem zu wenig ernstgenommenes Phänomen. Wolfgang Schulz-Pagel reagiert in seinen 4 geistlichen Melodien auf das Gesangsverbot im christlichen Gottesdienst. Johannes Matthias Michel arbeitet in seiner Missa Corona mit den in Coronazeiten beschränkten musikalischen Möglichkeiten und schaut aber auch schon nach vorn – in eine Zeit nach Corona.
Beate Leibe sieht ihre siebensätzige „Suite“ (I Der Morgen – II Die Nebelkrähe – III Die Spatzen – IV Die Schwäne – V Der Garten – VI Der Bach – VII Über allem: DU) „wohl eher in einem Orgelkonzert“. Die Sätze I bis III „eignen sich auch gut als Orgelvor- bzw. -nachspiel. IV und VI lassen sich als Meditation einsetzen. V und VII bieten sich für festliche Gottesdienste an“. Leibe arbeitet in allen Sätzen mit vielen eher improvisatorischen Modellen. In jedem Satz ist es ein neues Modell, das sehr konsequent durchgehalten wird, z. B. die unermüdlich gleiche Achtelbewegung, die das Fließen in Satz VI darstellen soll. Schon im Druckbild werden die jeweiligen Ideen gut sichtbar. Man könnte die Suite, deren technischen Schwierigkeit einfach bis mittelschwer ist, als gut gemachte und auch gut hörbare Kantorenmusik bezeichnen. Aber in den kleinen Feinheiten der Satzfaktur steckt mehr als brave Musik, die einem nur das Herz aufgehen lässt. Am Ende ist nicht alles gut. Denn – so Leibe: „… das Pochen des Herzens der Erde unter ihrer Last, das Drama des Endlichen, verborgen unter aller Pracht und Freude des Seins, der alltägliche Kampf darum, heute noch da sein zu wollen oder zu müssen – auch das gehört dazu und sollte nicht überhört werden“.
Herfried Mencke sieht in seinen KlimaWolken die Probleme musikalisch drängender und ohrenfälliger: „KlimaWolken widerspricht vielen gängigen Klischees: Dissonanzen am Anfang und am Schluss; die schönsten Klänge nur in der Mitte.“ Der offene Tritonus am Anfang und Ende des Stückes steht für die Klimakatastrophe, in der wir leben; Unheil braut sich zusammen. „Nur wenn wir miteinander in Liebe und Güte (Caritas et Amor) umgehen, können wir das Klima-Problem lösen und die Erde erhalten. Sonst gibt es nur neuen Hass und neue Kriege.“ Das Szenario, die drängenden Fragen, wird durch Einwürfe eines Sprechers, der auch der Organist selbst sein kann, beschrieben. Im Mittelteil der „Vision: Engelsgesang“ wird der Cantus „Ubi caritas et amor“ angestimmt: „Wo Güte und Liebe sind, da ist Gott“. Doch bereits kurz nach diesem Gesang holt uns die Wirklichkeit wieder ein. Und so setzt Mencke dem abschließenden Tritonus, quasi als einzig wirklicher Ausweg aus der Katastrophe, ein gesprochenes „Amor!“ entgegen. Die Komposition, die ebenfalls einen einfachen bis mittleren Schwierigkeitsgrad hat, ist gut als Impuls für einen Gottesdienst vorstellbar, in dem sie vielleicht auch zwei- oder dreimal erklingt.
Als in der Corona-Krise „die Kirchen wieder geöffnet wurden, entschied man, dass wegen der Aerosole im Gottesdienst auf das Singen von Liedern zu verzichten sei. Sprachlos nahmen wir das zur Kenntnis, ab jetzt wurde zur Orgel leise gesummt.“ So beschreibt Wolfgang Schulz-Pagel die Situation der Kirchenmusik und seinen Ausweg. Er komponiert „vier neue ‚sprachlose‘ Melodien, die nach Belieben begleitet werden können“. Seine Vision ist es, dass „vielleicht ja während des Summens bei jedem einzelnen im Kopf ganz eigene Ideen für mögliche Liedtexte entstehen. Und schon wären wir raus aus der Sprachlosigkeit“. Die Idee (summen statt singen) ist in ihrer Einfachheit genial – keine Frage! Die Möglichkeit, dass im eigenen Kopf möglicherweise Liedtexte entstehen, ist ein Gedanke, der bestechend schön ist. Schulz-Pagel schreibt dazu Melodien und Harmonisierungen, die – wie Carl Philipp Emmanuel Bach es nennen würde – von einer „edlen Simplicität“ sind. Ob man für diese Idee und ihre Durchführung im Gottesdienst allerdings Geld für dieses Notenheft ausgeben muss – das darf zumindest für einen Moment bezweifelt werden. Ähnliche Melodien und Harmonisierungen sollte jeder halbwegs ambitionierte Organist selbst in ähnlicher Qualität auch hinbekommen!
Johannes Matthias Michel bringt die Corona-Krise in Form einer Messe wieder zurück vor Gott. In dieser lateinischen Messe wurden das Kyrie, das Gloria, das Sanctus, das Benedictus, das Agnus Dei und das Dona nobis pacem vertont. Sie wurde 2020 „während der weltweiten Corona-Pandemie geschrieben“, erläutert Michel. „Das weitgehend lahmgelegte öffentliche Leben erlaubte zeitweise nur kleine Besetzung.“ War der Gemeindegesang zwar nicht erlaubt, so war bei entsprechenden Abständen eine Solo-Stimme in vielen Kirchen möglich. Der Orgelpart ist leicht bis mittelschwer, das Sopran-Solo kann von einem versierten Chor-Mitglied gesungen werden. Michel schaut mit dieser Messe aber auch über die momentane Machbarkeit hinaus in die Zukunft und gemahnt uns, diesem Blick zu folgen: „Diese Messe soll später einmal an alle diejenigen erinnern, die diesem heimtückischen Virus zum Opfer gefallen sind, sowie an diejenigen, die in ihrer Existenz durch die Pandemie-Maßnahmen bedroht waren.“
Alle vier Kompositionen zeigen, dass man sich mit einfachsten musikalischen und technischen Mitteln den großen Fragen unseres Daseins nähern kann. Sicher kann man in vielen Kirchen großartige Improvisationen hören, die auch mit neuen Klängen arbeiten, mit Dissonanzen gar. Dem einen der anderen Gottesdienstbesucher mögen dabei das tägliche Einerlei oder das Leiden der Welt durch den Kopf gehen. Wichtig ist es, die Probleme der Welt klar auszusprechen, eben auch und gerade in der Kirche, vor Gottes Angesicht.
Ralf-Thomas Lindner