Neithard Bethke

Lübecker St. Marien-Toccata op. 56/1

(1965/rev. 1985) für Orgel solo, Reihe „Ludi Organi I – Musikalisches Reisetagebuch Teil I“

Verlag/Label: Edition Merseburger EM 2881
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/02 , Seite 58
Neithard Bethke, ehemaliger Domorganist und -kapellmeister am Ratzeburger Dom, studierte in Lübeck und Freiburg. Sein Opus 56/1 entstand 1965, als der 1942 gebo­rene Bethke Schüler und Assistent von Walter Kraft an der imposanten St. Marien-Kirche in Lübeck war, an der bekanntlich auch Dietrich Buxtehude gewirkt hatte.
Walter Kraft als genialer Improvisator und der immense gotische Bau der Marienkirche mit seinem kolossalen Nachhall inspirierten Bethke zu seiner anspruchsvollen, klanggewaltigen und virtuosen Orgeltoccata. Sie entstand ursprünglich als Improvisationsskizze; während seiner Ratzeburger Zeit 1985 überarbeitete der Komponist das Ganze noch einmal. Dem Stück liegt die bekannte gregorianische Weise „Ave Maria gratia plena …“ aus dem Liber usualis zugrunde, die auch schon viele andere Komponis­ten bearbeitet haben. Im vorliegenden Druck ist der Text des Marien-Hymnus zur Verdeutlichung und Ausdeutung durch den Interpreten dankenswerterweise immer unterlegt.
Die Toccata beginnt mit zwei sich aufbauenden Akkordfolgen, die sich stringent auf die Exposition des Themenkopfes hin bewegen. Das Thema wird sodann in Verkleinerung in den anderen Stimmen imitiert und das Ganze auf einer an­deren Stufe wiederholt – ein Abschnitt, der noch zweimal im Werk, zum Teil mit Verarbeitung weiteren Themenmaterials, wiederholt wird. Überhaupt wird mit dem thema­tischen Material in diesem Stück konsequent gearbeitet, sei es in eng versetzter kanonischer Weise, in Verwendung der Themenkopftöne als Akkorde oder als harmonische Grundlage, in kleingliedrigen Va­ria­tionselementen und ostinater Verarbeitung. Freie rezitativische Episoden und typisch neobarocke Kontrapunktik werden durch zwei ruhig-meditative Abschnitte unterbrochen, bevor ein triumphales Schluss-Amen das Stück beendet.
Bei aller Kleingliedrigkeit, die diese Toccata traditionsgemäß ausmacht, ist der Hall eines großen Raumes durch meist flächige Gestaltung gekonnt mit einbezogen. Das Stück wird daher sicherlich an entsprechend großen Instrumenten seine großartige Wirkung nicht verfehlen.
Stefan Kagl