Camille Saint-Saëns

Le Carnaval des Animaux

für Orgel bearbeitet von Shin-Young Lee

Verlag/Label: Schott Music, ED 23492
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2022/02 , Seite 53

Wenn die Orgel, wie César Franck sagte, ein Orchester ist, dann meinte er, dass ihm am Spieltisch seiner Cavaillé-Coll-Orgel eine Vielfalt an Klangfarben und Instrumenten zur Verfügung steht wie bei einem Sinfonieorchester. Daraus ließe sich folgern, dass es auf der Orgel kein Problem sei, bekannte symphonische Werke zu übertragen und adäquat zu darzustellen. Ganz so einfach ist dies allerdings nicht, da ein Orchester meist aus über fünfzig Musikerinnen und Musikern besteht, die sich alle mit Hingabe und Individualität ihrem jeweiligen Instrument widmen und zum Beispiel Oboen, Hörnern, Cello oder Harfe so viele individuelle Nuancen und Klangfarben entlocken, dass die Orgel dies allenfalls annähernd nachahmen kann.
Umso schwieriger wird die Aufgabe bei der Übertragung eines Werks wie Der Karneval der Tiere von Camille Saint-Saëns, das dieser 1886 für eine spezielle Kammerensemble-Besetzung mit Querflöte (Pic­coloflöte), Klarinette, Xylophon, Glasharmonika, zwei Klavieren, Violine 1/2, Viola, Cello und Kontrabass schrieb. Wie soll eine solche Besetzung auf die Orgel übertragen, wie ein Instrument wie Klavier oder Xylophon imitiert werden? Spätes­tens hier wird deutlich, dass es bei einer Orgelbearbeitung nicht um eine klangliche Imitation des Originals gehen kann, sondern eher um eine eigenständige Adaption der Musik, die den Geist des Originals und die Möglichkeiten der Orgel gleichermaßen im Blick behalten muss.
Die koreanisch-französische Organistin Shin-Young Lee (Paris) hat sich dieser Aufgabe gestellt und bei Schott Music eine vollständige Übertragung des Werks auf die Orgel veröffentlicht: eine brillante und klanglich ausgefeilte Fassung, die absolut überzeugt. Ihre Bearbeitung setzt dabei eine enorme Virtuosität und technische Meis­ter­schaft voraus, sodass sie sich an wirkliche Könner auf dem Instrument wendet. Über diese souveräne Virtuosität verfügt Sin-Young Lee selbst mühelos, wie eine Videoaufnahme mit Radio France beweist, die Interessierte sich auf YouTube ansehen können. Unbedingt empfehlenswert, auch als Anregung für die Interpretation des Werks!
Gleich im ersten Stück („Introduction et Marche royale du Lion“) wird in den furiosen chromatischen Tonleitern des Pedals der virtuose Anspruch deutlich, aber auch bei den ausgedehnten Arpeggien in Nr. 7 („Aquarium“), den grazilen 32telketten bei Nr. 10 („Volières“), mit denen die zart dahinhuschende Querflöte imitiert wird. Die berühmte Nr. 11 („Pia­nis­tes“) wird von Sin-Young Lee ebenso virtuos behandelt; Saint-Saëns’ Kritik am stumpfsinnigen Skalentraining der Pianisten bezieht sie dabei augenzwinkernd auf die Organisten. Sie empfiehlt diesen allerdings im Vorwort, Saint-Saëns’ Rat, dass „die Interpreten das Spiel eines Anfängers und seine Unbeholfenheit imitieren“ mögen, besser zu ignorieren. Dazu besteht bei Lees Bearbeitung auch kein Anlass, denn die parallelen Terzenketten, die sie als Doppelpedal verlangt, setzen absolute technische Meisterschaft voraus.
Wie geht diese Orgelbearbeitung mit den Klangfarben um? Zunächst einmal verfolgt sie das Ziel, eine möglichst große klangliche Nähe zum Original herzustellen, wo immer dies machbar ist. Das gelingt ganz wunderbar bei Nr. 2 („Poules et Coqs“), wenn das Hühnergega­ckere mit schrillen Registern wie Tierce, Larigot, Nazard und Septième erzeugt wird, bei Nr. 4 („Tortues“), wo die Streicherakkorde mit Salicional und Gambe zelebriert werden und die Schildkröte majestätisch-ruhig mit zarten Fonds 16’ und Anche douce 16’ im Pedal dahinschreitet. Schließlich auch in Nr. 8 („Personnage à longues oreilles“, wenn die von Mixturen und hohen Stimmen gespielten Vorschläge und die akzentuierten hohen Noten ohne weiteres als Eselsgeschrei erkennbar sind. Die Imitation der Glasharmonika in Nr. 8 („Aquarium“) ist da schon schwieriger, aber durch die Verwendung eines Registers wie Cymbal (oder Celesta, Glockenspiel) lässt sich durchaus eine gewisse klangliche Nähe erreichen.
Die besondere Meisterschaft der vorliegenden Bearbeitung zeigt sich in Nr. 13 („Le Cygne“): Das elegante Dahingleiten des Schwans, im Original von Cello und Klavier gespielt, lässt sich nicht eins zu eins auf die Orgel übertragen. Das Klavier hat einen stärker rhythmisch-perkussiven Klangcharakter als die Orgel, und das Cello mit seinem tiefen, sonoren Klang lässt sich nur bedingt nachahmen. Es muss andere Möglichkeiten geben, dem Original nahe zu kommen, und diese findet Lee in einer gewissen Freiheit, die aber letztlich dem Werk dient: Im Pedal gibt es eine sehr anspruchsvolle Zusatzstimme, die so im Original nicht vorhanden ist. Aber sie erfüllt einen Zweck, nämlich etwas mehr rhythmische Konstanz mit einer fließenden Achtelbewegung zu erreichen, gleichzeitig entfaltet sie auch durch bordunartig gehaltene Grundtöne ein Klangfundament (quasi als Ersatz des Klavierpedals) im Bass. Das klangliche Ergebnis ist überzeugend und die Pedalstimme an sich ein paar Übeeinheiten wert!
Grundsätzlich ist der Bearbeiterin bewusst, dass jede Orgel über andere Klangfarben verfügt, daher betont sie im Vorwort, dass die Klangpalette natürlich am jewei­ligen Instrument individuell angepasst werden muss. Ein köstlicher Abschluss des Zyklus ist die Nr. 14 („Final“), in der Shin-Young Lee mit Mixturen, Mutations und Fondsstimmen der Charakter einer „Kirmesorgel“ erzeugt und so die vom Komponisten beabsichtigte gute Laune wunderbar zum Ausdruck bringt.
Meisterhafte Orgelbearbeitung eines der beliebtesten Werke der Musikgeschichte – unbedingt empfehlenswert, zum Beispiel für Kinderkonzerte, aber auch für das erwachsene Konzertpublikum.

Rainer Mohrs