Brülls, Holger

Ladegast-Orgeln in Sachsen-Anhalt

hg. vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt

Verlag/Label: Imhof, Petersberg 2005
erschienen in: organ 2009/04 , Seite 55

Der in diesen Tagen oft zitierte bzw. viel beschworene deutsch-deutsche Mauerfall vor nunmehr zwanzig Jahren hat nicht zuletzt auch in der orgel(bau)ästhetischen Debatte hier­zulande – und vielleicht ja darüber hinaus? – Neues angestoßen: Seit diesem magischen Datum hat sich während der vergangenen rund 15 Jahre die Aufmerksamkeit von Orgelfachleuten wie der orgelbegeis­ter­ten Enthusiasten verlagert, weg von dem seit den 1980er Jahren – teils bis zur Unerträglichkeit – über­triebenen „Starkult“ um die fran­zösisch-symphonische Orgel vom Zuschnitt Cavaillé-Colls hin zu den vordergründig unspektakuläreren und freilich weitaus weniger brillan­ten deutsch-romantischen Instru­men­ten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Waren diese unter den unrühmlichen „konservatorischen“ Bedingungen des kaum „orgel-freundlichen“ SED-Staates in einer Art Dornröschenschlaf öffentlicher, gar transnationaler Aufmerksamkeit entzogen, wurden sie nach der Wende, ihrer „unschuldigen“ Reinheit und Originalität wegen, unversehens wieder zu Kultobjekten.
Friedrich Ladegast (1818-1905) ge­hört neben Orgelbauergrößen wie Eberhard Friedrich Walcker und Wilhelm Sauer, um die klangvolls­ten Namen zu nennen, neben einer ganzen Reihe mitteldeutscher Zunft­­genossen, darunter Johann Fried­rich Schulze (1793-1858) in Paulinzella, Adolf Reubke (1805-1875) in Magdeburg oder Friedrich Wilhelm Ernst Röver (1857-1923) aus Quedlinburg, zu den profilierten Protagonisten der heute so bezeichneten „romantischen“ Orgel in Deutschland. Ladegasts Instrumente imponierten bekanntlich gar dem großen Franz Liszt. Das neu erbaute viermanualige Werk im Merseburger Dom inspirierte den Großmeister der Sinfonischen Dichtung zur Kom­positionen bedeutender Orgel­werke. Außer Präludium und Fuge über BACH sind – was häufig über­sehen wird – weitere gewichtige Orgelkompositionen Liszts unter dem Eindruck des Merseburger Ladegast-Instruments entstanden oder für dieses „instrumentiert“ worden: Variationen über „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen, Evocation à la Chapelle Sixtine, Einleitung, Fuge und Magnificat aus der Symphonie zu Dantes „Divina Commedia“ [„Bei der Bearbeitung dieses Tonstückes hatten wir die vorzügliche Merseburger Domorgel von Ladegast im Sinn“], Andante religioso [„Die vor­liegende Composition war zunächst für die berühmte Domorgel von Fr. Ladegast in Merseburg bestimmt, bei welcher sich durch den Crescendo-Zug die hier angedeuteten Klangnüancen sehr schön erzielen lassen“] sowie Ave Maria [„Bei der Registrierung dieses Orgelsatzes ist auf die berühmte Domorgel von Ladegast in Merseburg Rücksicht genommen“]. Die Bedeutung des Merseburger Ladegast-Instruments für den Liszt’schen Kreis wurde noch dadurch verstärkt, dass die große Orgel­sonate in c-Moll des bedeutenden Liszt-Schülers Julius Reubke mit ihm verbunden ist. Reubke schrieb dieses Werk, „wozu Liszt’s Propheten-Phantasie ihm die künstlerische Anregung gegeben hatte“, im Frühjahr 1857 und spielte die Uraufführung just im Mer­se­burger Dom am 17. Juni 1857.
Ladegast kann unter all seinen mittel­deutschen Orgelbauerkollegen mit Fug und recht als „Primus inter pares“ betrachtet werden. Und über ihn hatte Holger Brülls, Mitarbeiter des Landesdenkmal­amts von Sachsen-Anhalt, anlässlich des hunderts­ten Todestages vor nahezu fünf Jahren eine überaus lohnende 462 Seiten umfassende Dokumentation verfasst, in welcher er verdienstvoll und akribisch alle Instrumente Ladegasts und seines Sohnes Oskar innerhalb Sachsen-Anhalts katalogisiert. Im zweiten Teil werden diese eingehender beschrieben und bildhaft dokumentiert: summa sum­marum ca. siebzig Instrumente, von der schlichten einmanualigen Dorforgel bis zur klanggewaltigen viermanualigen Dom­orgel. Dabei fehlen auch nicht, wo nahe liegend und angezeigt, gelegentliche Verweise auf Referenzbauten Ladegasts außerhalb des sächsisch-anhaltinischen Bundesland-Territoriums.
In seiner 1847 gegründeten Werkstatt in Weißenfels entstanden über die Dauer von sechs Jahrzehnten immerhin rund 200 Instrumente (bei seinem Pariser Zeitgenossen Aristide Cavaillé Coll waren es über den gleichen Zeitraum zum Vergleich über 600 Orgeln gewesen), deren hohe handwerkliche Solidität und Klangschönheit die Musikwelt damals wie heute fesselten.
Brülls’ leicht lesbarer, übersichtlich gestalteter Orgelführer, der gewissermaßen Werkstatt-Chronik und Orgelinventar innerhalb eines einzigen Formats bietet, stellt auch etliche bislang unpublizierte bzw. weithin unbekannt gebliebene Ope­ra des Erbauers vor und dokumentiert zudem wichtige in jüngerer Vergangenheit eingebüßte bzw. zer­störte Orgeln. Im ersten Teil wird die Geschichte der Weißenfelser Werkstatt erzählt, wobei Aufstieg und Nieder­gang Ladegasts auf eine im besten Sinne unterhaltsame Weise kenntnisreich erzählt wird: Wie einst alles in einfachsten Verhältnissen seinen Anfang nahm, der hoffnungsvolle Jungorgelbauer dank intervenierender Fürsprache des Merseburger Domorganisten und Orgelrevisors David Hermann Engel an lohnende Aufträge kam und sich um Mitte des Jahrhunderts mit den Großorgeln in den Domen von Merseburg und Stettin sowie der Leipziger Nikolaikirche über­re­gio­nale Reputation erarbeitete. Wie dieser Ruhm sogar das internationale Geschäft beflügelte und Aufträge bis nach Moskau generierte. Erzählt wird zudem die Geschichte des Niedergangs, flankiert von Kritik, Zweifeln und Querelen um die technische Zuverlässigkeit und Modernität seiner inzwischen als konservativ stigmatisierten Werke, bis unter der Verantwortung von Sohn Oskar der einstige Vorzeigebetrieb rasant an Bedeutung einbüßte und in der 1930er Jahren schließlich Konkurs anmeldete.
Ladegasts bleibende Bedeutung ver­­dankt sich zuerst der noblen Klang­­lichkeit seiner Orgeln, die schon von den Zeitgenossen als elegant und gravitätisch gerühmt wurde, trotz mancher immer wieder bemängelter technischer Schwächen oder Unausgereiftheiten wie etwa der Traktur-Schwergängigkeit gerade seiner großen Orgeln. Ladegasts Werke wurden schon früh im 20. Jahrhundert zum Objekt der Orgeldenkmalpflege; auch Albert Schweitzer hatte sich für deren Erhalt eingesetzt. So entsteht bei der Lektüre dieser nunmehr fünf Jahre alten Dokumentation vor dem geistigen Auge des Lesers eine eindrucksvolle Überschau über das Gesamtschaffen Ladegasts, der in der Blütezeit seiner Firma seine orgelbaulich-geschäftlichen Aktivitäten ähnlich wie Walcker oder Cavaillé-Coll europaweit auszudehnen vermochte.

Hannah Oelsnitzer