Kol Nidrei

Bearbeitungen für Violine und Orgel von Josef Bloch, Moritz Deutsch und Louis Lewandowski

Verlag/Label: Edition Merseburger (= Reihe Synagogalmusik, Band 9), EM 1873
erschienen in: organ 2018/02 , Seite 56

Kol Nidre (aramäisch ???? ??????? „Alle Gelübde“) ist ein formelhaftes altjüdisches Gebet, das als Einleitung zum Vorabend des Versöhnungsfests Jom Kippur, dem höchsten und heiligsten jüdischen Fest, am 10. Tischri (zwischen Mitte September und Anfang Oktober) in der Synagoge gesungen wird. Jom Kippur ist der ernste und weihevolle Abschluss der zehn Bußtage, die am jüdischen Neujahrsfest Rosh hashana beginnen. An diesem Hochfest sollen durch aufrichtige Reue und Läuterung des Menschen der Nachlass der Sünden und die Versöhnung mit Jawhe bewirkt werden. In dem Gebet Kol Nidre geloben zudem die gläubigen Juden die Nichtigkeit erzwungener Gelübde, die, wie der Text betont, die eigene Person betreffen; ausdrücklich ausgenommen von diesem Gelöbnis sind gesetzliche Eide.
Die spätestens im 16. Jahrhundert entstandene Melodie ist askenasischer Herkunft und stammt folglich von den Juden Nord-, Mittel- und Osteuropas. Es existieren zahlreiche Versionen, wobei zwischen dem ost- und dem westaskenasischen Ritus zum Teil erhebliche Unterschiede bestehen. Aufgeschrieben wurde die Kol Nidre-Melodie zum ersten Mal um 1765 von Aaron Beer. 1881 griff der Protes­tant Max Bruch dann in seiner gleichnamigen Komposition (Adagio) Opus 47 für Violoncello und Klavier (oder Orchester) die berühmte Melodie des Kol Nidre auf. Dieses Werk ist bis heute wohl die bekannteste Vertonung geblieben (s. a. die bei Merseburger erschienene Ausgabe EM 1872 für Violoncello und Orgel).
Mit der vorliegenden Neuausgabe legt Merseburger drei Vertonungen jüdischer Komponisten vor. Louis Lewandowski (1821–94) orientierte sich bei der Komposition an seiner Bearbeitung der Melodie für Kantor, gemischten Chor und Orgel, ist also ganz der synagogalen Praxis selbst entsprungen. Die Violinstimme verziert die Melodie, ohne sie jedoch vollständig aufzulösen, ganz im Gegensatz zu Josef Bloch (1862–1922), der sich in seinem Werk am weitesten von der originalen Vor­lage entfernt. Die virtuose Violinstimme mit ihren Sequenzen und Tonskalen deutet darauf hin, dass es sich hierbei eher doch um ein Werk für den Konzertsaal handelt.
Kol Nidre von Moritz Deutsch (1815–82) ist im Original für eine Singstimme mit Orgel- oder Klavierbegleitung geschrieben: Die Violinstimme ist hier mit der Singstimme identisch, sogar der originale hebräische Text in lateinischer Transliteration wurde beibehalten.
Die technischen und rhythmischen Anforderungen an die/die Violinisten/in sind in allen drei Werken nicht zu unterschätzen. Der Orgelpart beschränkt sich dagegen größtenteils auf eine homophon-akkordische Begleitung.
Notenbild und Druck sind einwandfrei, dem Heft ist eine eigene Partitur für die Violine beigefügt.
Verlag und Herausgeber Martin Forciniti ist erneut ein großer Dank für diese gelungene Edition auszusprechen. Nicht allein der Rezensent dürfte gespannt sein, welche Editionen in dieser Sequenz als nächstes folgen werden …

Achim Seip