Axel Flierl

Karl Höller und die choral­gebundene Orgelmusik in Deutschland 1929–1949

Verlag/Label: Dohr, Köln 2019, 486 Seiten, 59,80 Euro
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/03 , Seite 54

Karl Höller (1907–87) hat ein umfangreiches kompositorisches Werk hinterlassen, das Orchestermusik, Kammermusik, Klaviermusik, Vokal- und Chormusik sowie Orgelmusik umfasst. Als Sohn des Bamberger Domorganisten Valentin Höller hatte er aber zweifellos ein besonderes Verhältnis zur Orgelmusik, hat den Vater schon als Zwölfjähriger auf der Domorgel vertreten und wurde von ihm bereits mit acht Jahren zum Komponieren animiert. Karl Höller war ein vorzüglicher Organist und hat viele seiner Orgelwerke selbst uraufgeführt. Er zählt zu den wichtigen deutschen Orgelkomponisten des 20. Jahrhunderts, auch wenn seine Musik in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr aus dem Blickfeld und den Konzertprogrammen verschwunden ist. Umso verdienstvoller ist es, dass Axel Flierl in seiner an der Musikhochschule Karlsruhe entstandenen Dissertation eine umfassende Darstellung von Leben und Werk Karl Höllers vorgelegt hat.
Monografien über Komponisten stehen stets vor einem doppelten Anspruch und sollten zwei Dinge gleichzeitig bewerkstelligen: zum einen Leben und Werk des Komponisten gründlich beleuchten, zum anderen aber es in den Kontext seiner Zeit stellen und den Blick weiten für den historischen Kontext, den Zeitgeist, den Zusammenhang zum Denken und Schaffen anderer Komponisten. Um es gleich vorweg zu sagen: Dies gelingt Axel Flierl in wirklich beeindruckender Weise.
Perspektivenvielfalt und Weite des Blicks kennzeichnen Flierls methodischen Ansatz. Besonders interessant sind die Untersuchungen zum kirchenmusikalischen Denken der Zeit, die Karl Höllers Komponieren von verschiedenen Ansätzen her beleuchten: Hugo Distlers Anschauung von „neuer Sakralkunst“, Ernst Peppings Vorstellung vom linearen Satz, Hermann Schroeders Texte über die dienende Funktion der Kirchenmusik in der Liturgie, Hindemiths Orgelideal und Klangvorstellung, und vieles mehr. Außerdem werden grundlegende Fragen wie die Orgelbewegung oder die Liturgiereform in der evangelischen und katholischen Kirche erörtert. So entsteht ein wirklich umfassendes Bild von Karl Höllers Musik im Kontext ihrer Zeit.
Die klug disponierte Arbeit hat alle relevanten Quellen aus dem Nachlass Karl Höllers ausgewertet, der in der Bayrischen Staatsbibliothek und im Privatarchiv der Familie aufbewahrt wird: Autographe, Briefe, Konzertprogramme und -kritiken, zahlreiche unveröffentlichte autobiografische Texte und Überlegungen zur Musik sowie verschiedenste Dokumente aus dem Berufsleben. Zusätzlich wurden Gespräche mit Zeitzeugen, Familienmitgliedern, Kollegen und Schülern ausgewertet. Diese quellenbasierte Darstellung gibt den Ausführungen eine besondere Authentizität.
Höller studierte an der Münchener Akademie der Tonkunst bei dem Reger-Schüler Joseph Haas und steht damit in der Tradition der deutschen Romantik. Diese Traditionslinie wird ausführlich beschrieben und mit kenntnisreichen analytischen Betrachtungen zu den Bezügen von Höllers Werk zur Musik von Reger und Haas untermauert. Höller, der später selbst von 1949 bis 1972 als Kompositionslehrer und Rektor an der Münchener Musikhochschule wirkte, hat nach Berichten von Schülern einen Unterrichtsstil gepflegt, der undogmatisch war und den Kompositionsstudenten viel Freiheit ließ, ohne sie zu indoktrinieren. So hat er es wohl selbst bei seinem Lehrer Joseph Haas erlebt. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vergleich der Unterrichtsprinzipien, die von Haas überliefert sind, mit dem Unterrichtsstil von Karl Höller.
Der Zeitraum der Untersuchungen zur choralgebundenen Orgelmusik zwischen 1929 und 1949 ist gut gewählt, geht es doch um entscheidende Phasen der deutschen (Musik-) Geschichte von der Weimarer Republik über die Zeit des Nationalsozialismus bis hin zur bundesrepublikanischen Demokratie der Nachkriegszeit. Sehr differenziert und sensibel fallen die Ausführungen zu Karl Höllers Wirken im „Dritten Reich“ aus, und es wird deutlich, dass der Künstler sich – trotz mancher notwendiger An­passung – um Unabhängigkeit des Denkens und um eine Distanz zu den Nationalsozialisten bemühte. Dies wird schon dadurch sichtbar, dass er weiterhin Kirchenmusik und choralgebundene Orgelmusik schrieb.
Höllers Orgelmusik umfasst 23 Orgelwerke, darunter ein Konzert für Orgel und Orchester, 19 Solowerke und drei Werke für Orgel mit Instrumenten. Zwölf Stücke sind choralgebundene Orgelwerke. Dass Letztere in Höllers Komponieren eine wichtige Rolle spielen, zeigt sich schon daran, dass das Opus 1 ein choralgebundenes Orgelwerk ist, die Partita über den Choral „O wie selig seid ihr doch, ihr Frommen“ (1929). Chromatik, impressionistische Farbigkeit und kühne Akkord­rückungen kennzeichnen dieses frühe Werk, aber auch schon eine deutliche Neigung zu polyphon-linearer Schreibweise, zu neoklassizistischer Formgestaltung, Verwendung von Ostinati und Intervallparallelen. Höllers Choralbearbeitungen sind, anders als bei Schroeder oder Pepping, selten direkt für den Einsatz in der Liturgie geschrieben sondern dienen unabhängig davon als Literatur für (geistliche) Konzerte. Ausnahmen sind einige kleinere Choralbearbeitungen, die als Auftragskompositionen für die Sammlungen 73 leichte Choralvorspiele aus alter und neuer Zeit (Leuckart) und Marienstatter Orgelbüchlein (Breitkopf & Härtel) entstanden.
Große Choralbearbeitungen sind die Choral-Passacaglia über „Die Sonn’ hat sich mit ihrem Glanz gewendet“ op. 61 (1963) und das Triptychon über die Ostersequenz „Victimae paschali laudes“ op. 64 (1975/ 76). Die Zwei Choralpartiten op. 22 (1936) behandeln die Choräle „Helft mir Gottes Güte preisen“ (Nr. 1) und „Jesu meine Freude“ (Nr. 2). Letzteres gehört zu Höllers bekanntesten Werken und zeigt seine Fähigkeit, Kompositionsprinzipien des 18. Jahrhunderts aufzugreifen und doch eine persönliche Tonsprache zu finden, die weniger dissonant ist als manche Orgelwerke seiner Zeitgenossen.
Axel Flierl legt aber überzeugend dar, dass Höllers Musik nicht vorschnell mit dem Etikett „spätromantisch“ belegt werden sollte, wie es die ältere Forschung tat. Flierl plädiert für ein differenzierteres Bild, denn Höllers Komponieren war offen für viele moderne Stilmerkmale. Neben den für viele deutsche Orgelkomponisten der Zeit typischen Stilmerkmalen einer polyphon-kontrapunktischen Satztechnik und neoklassizistischen Hinwendung zu alten Formen wie Partita, Ciacona, Passacaglia oder Choralbearbei-tung gibt es viele Verbindungen auch zu französischen Komponis­ten: etwa zu Debussy, Ravel und Duruflé, mit impressionistischer Harmonik, Ganztonleiterklängen, parallel geführten Intervallen und Akkordketten sowie bitonalen Passagen, aber auch zu Komponisten wie Puccini oder Rossini und (seltener) sogar zur Musik Scott Joplins mit jazzaffinen Synkopen in der Choral-Partita „Jesu meine Freude“. Alle diese Einflüsse werden anhand von zahlreichen Notenbeispielen aus Werken anderer Komponisten sehr anschaulich dargestellt.
Höller selbst hat von seiner Herkunft aus dem „Lebensraum Reger Haas“ gesprochen. Insofern überrascht es nicht, dass auch viele Anklänge an Werke des direkten und indirekten Lehrmeisters bestehen. Allerdings unter dem Strich doch in geringerem Maße als allgemein angenommen, denn eine stilistische Unabhängigkeit hat sich Höller bewahrt. Was seine Orgelmusik insgesamt auszeichnet, ist ihre musikantische Art, die Nähe zur Improvisation und der instrumentengerechte, wirkungsvolle Orgelsatz, der stets den praktizierenden Organist erkennen lässt.
Karl Höllers Schaffen reicht weit über Orgelmusik hinaus und ist universell angelegt. Das unterscheidet ihn von Orgelspezialisten. Seine symphonische Musik wurde zum Beispiel von bedeutenden Dirigenten aufgeführt: Wilhelm Furtwängler dirigierte die Uraufführung des Cellokonzerts durch die Berliner Philharmoniker, Eugen Jochum
die Sweelinck-Variationen mit dem Symphonieorchester des Bayrischen Rundfunks. Für Höllers Orgelmusik engagierten sich namhafte Or­ga­nisten, vornehmlich im süddeutschen Raum, wie Friedrich Högner, Harald Feller, Edgar Krapp, Franz Lehrndorfer, Michael Schneider oder Gerhard Weinberger. Seiner Musik ist zu wünschen, dass sie in Zukunft wieder häufiger erklingt und neue Freunde findet.
Für die Auseinandersetzung mit dem Werk Karl Höllers ist Axel Flierls umfassende Würdigung eine ausgezeichnete Basis und sollte in keiner Bibliothek fehlen. Ein vollständiges Werkverzeichnis mit Angaben zu Autographen, Verlagen, Widmungsträgern, Uraufführungen und späteren Aufführungen sowie Spieldauern rundet die vorzügliche, für die Auseinandersetzung mit der Orgelmusik des 20. Jahrhunderts ungemein anregende Arbeit ab.

Rainer Mohrs