Journey Around the Truth

Andy Emler an der Gerhard Grenzing-Orgel (2013) im Auditorium von Radio France, Paris; David Liebman, Saxofon

Verlag/Label: Signature, SIG 11116 (2019)
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/04 , Seite 63

Bewertung: 4 von 5 Pfeifen

Allzu viele CD-Veröffentlichungen mit im weitesten Sinne Jazz auf (Pfeifen-)Orgeln gibt es ja nicht – was sehr schade ist, bietet doch die Orgel unglaubliche klangliche Möglichkeiten, die die meis­ten Instrumente (Synthesizer ausgenommen) von Haus aus erst einmal vermissen lassen.
Die vorliegende CD wurde von dem 1958 geborenen französischen Pianisten und Komponis­ten Andy Emler zusammen mit dem US-amerikanischen Saxofonisten David Liebman im Auditorium von Radio France, Paris, aufgenommen. Emler spielt die dortige 2013 von Gerhard Grenzing erbaute Orgel, wobei seine Ideen und seine Spielweise – das sei vorab gesagt – ganz hervorragend zu dieser Orgel passen!
David „Dave“ Liebman, 1946 in Brooklyn geboren, ist ein namhafter Musiker, der u. a. mit Miles Davis, Chick Corea und John Scofield tourte. Er hat viele internationale Auszeichnungen erhalten, er komponiert und veröffentlicht Bücher. Seit 1973 wird er fast ständig als einer der führenden Sopransaxofonisten im Kritiker-Poll des Down Beat (US-amerikanisches Jazz-Magazin mit der weltweit höchsten Auflage) geführt.
Die Aufnahmen sind durchgängig von hoher Qualität und man hat stellenweise das Gefühl, nahe bei den Musikern zu sitzen. Was vielleicht manchmal etwas fehlt, ist der große Kirchenraum; das Audito­rium scheint nach anderen klang­lichen Idealen gebaut zu sein.
Musikalisch ist die CD durchgängig kurzweilig. Die vielen wunderbaren Ideen – die offenbar zumeist von Emler stammen – werden von den Musikern mal abwechselnd, mal gleichzeitig aufgegriffen und facettenreich umspielt. Leider verfällt der Saxfonist dabei immer mal wieder in – für meinen Geschmack – belangloses und vor allem seelenloses Gedudel, er spielt viele schnelle Töne ohne für mich erkennbare Bedeutung, sei es musikalischer Art, sei es als Ausdruck menschlicher Regung oder Gefühl. Zwar meinte der Jazz-Kritiker Wolf Kampmann einmal, David Liebman gehöre „zu den zentralen Saxofonisten der Coltrane-beeinflussten Moderne“, doch zumindest auf dieser CD fehlt ihm dieser Coltrane-typische Biss, diese Wut, diese unfassbare Tiefe. Andy Emler ist hier weit „näher dran“ als Liebman, näher an sich selbst. Er scheint mir derjenige zu sein, der hier federführend ist und dem Liebman bisweilen nicht wirklich Essenzielles hinzuzufügen weiß. – Ich persönlich würde mir eine Solo-Orgel-CD von Andy Emler wünschen …
Trotzdem: Im Vergleich zu CD-Veröffentlichungen von Organis­ten oder Pianisten aus dem klassischen Bereich, die sich am Jazz versuchen, ohne die tiefe Essenz verinnerlicht und verstanden zu haben, schneidet die CD Journey Around the Truth aber doch gut ab: Emler und Liebman „haben“ es!

Henning Pertiet