J. S. Bach – Harmonic Seasons

Manuel Tomadin an der Treutmann-Orgel (1737) der Stiftskirche Grauhof, Goslar

Verlag/Label: Brilliant 95786 (2018)
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2020/03 , Seite 60

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Anmutig ist wohl das treffendste Prädikat für Manuel Tomadins Manier, das bekannte G-Dur-Präludium von Johann Sebastian Bach zu beginnen: Ohne Schärfe und Eile führt er in die warme und farbige Klangwelt der berühmten Grauhofer Orgel. Selten hört man eine so bedrückende Version der Vater­unser-Bearbeitung BWV 682 – als kämen die Seufzer von einem Verzweifelten, der gerade noch Bruchstücke des Herrengebets hervorzubringen vermag. „Jesus Christus unser Heiland“ (BWV 666) erklingt in einer raunenden Version allein mit strichloser Spitzflöte. In „Gelobet seist Du, Jesu Christ“ (BWV 604) wird Bachs Nähe zu Buxtehude offenbar. Schließlich rammt Tomadin mit Präludium C-Dur samt Fuge (BWV 545) mittels des Großen Posaunen Baß 32 Fuß als Fundament für ein monumentales terzhaltiges Plenum seine Bach-Botschaft ins Innere geneigter Hörer: Alles ist hier gewichtig und zusammenhängend.
Im ausschließlich englischsprachigen Booklet-Text legt der Interpret seine Programmwahl und -anordnung dar: Ausgehend vom nicht allzu oft gespielten Kleinen harmonischen Labyrinth bildet er in Tonartenkomplexen in G-Dur, e-Moll, c-Moll und abschließend C-Dur gleichsam ein Quintenzirkel-Destil­lat; jedem Tonraum sind gezielt ausgesuchte Beispiele freier und choralgebundener Werke zugeordnet. Als musikalisch plausible Hörfolge geht das Konzept auf, wenngleich Tomadins gedankliche Herleitung ob der vielen unbestimmten Begriffe sowie merkwürdiger Konstrukte (etwa dem der harmonischen Jahreszeiten) nicht immer nachvollziehbar ist und nur bedingt überzeugt.
Wenig konkret und lückenhaft sind die Informationen zu Manuel Tomadins Vita und zur Orgel; unerwähnt bleiben die Restaurierung durch Gebrüder Hillebrand 1989–92 sowie Angaben zu Stimmtonhöhe und Temperierung. Aber etwas Schärfe und labyrinthische Verwirrung in den Modulationen von e- und c-Moll ist gewiss beabsichtigt und zur Dramaturgie passend. Dafür muss man die Registrierungen nicht raten.
Wie spekulativ nun Manuel Tomadin den Bachschen Kosmos auch zu ergründen sucht: Er macht sich intensiv Gedanken und füllt die CD nicht etwa nach schierer Länge. Mit sicherem Gespür für Alte Musik und das weitgehend authentische Instrument von 1737 hinterlässt er auf dieser Einspielung einen positiven, ja freundlichen Höreindruck.

Markus Zimmermann