Andrea Kumpe

Innovative Orgelschule

6 Bände

Verlag/Label: www.orgelschule.com
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2020/03 , Seite 52
Allein schon äußerlich macht die Innovative Orgelschule von Andrea Kumpe einen gewichtigen Eindruck. Als der Paketbote klingelte, dachte ich, mir würde eine aus Versehen bestellte Kiste Wein geliefert, doch beim näheren Hinsehen erwies sich die Lieferung, immerhin 8,3 Kilogramm schwer, als Büchersendung.
Die Orgelschule möchte so ein bisschen die Quadratur des Kreises sein und die großen Themenbereiche rund um das Orgelspiel, sprich Literatur und Improvisation sowie auch Komposition, daneben Literaturschau, Orgellandschaften und Orgelbaukunde miteinander verbinden. Dabei bedient sie sich auch moderner Medien wie einer interaktiven Website.
Die einzelnen Bände sind farblich unterschiedlich gehalten, die in Spiralbindung gefassten Seiten sind, für häufigen Gebrauch gut geeignet, in stabilem Karton eingebunden, das Design ist flott und modern,  Druck und Notensatz sind gut lesbar.
Der erste Band beginnt nach diversen Vor- und Dankesworten mit einer Gesamtübersicht über die Konzeption und Lernziele der Orgelschule.
Nach einigen grundsätzlichen allgemeinen Einführungen über Spielweise, Übe-Ausstattung (z. B. Orgelschuhe), Sitzposition auf der Orgelbank, Körperhaltung etc. kommen schon die ersten kleinen Übungen zum Einsatz. Die Orgelschule beginnt, spieltechnisch gesehen, ziemlich weit am Anfang, aber man sollte bereits Violin- und Bassschlüssel lesen können, und Anfängerkenntnisse im Klavierspiel sind sicherlich von Vorteil.
Die einzelnen Übungen sind immer wieder mit hilfreichen Zitaten oder auch praktischen Übungen von bekannten Organis­ten bzw. Orgelkomponisten und -Pädagogen durchsetzt. Außerdem gibt es regelmäßig freie Notenlinien für kleine Kompositionen, so dass das Erlernen von bereits erfundener Musik und das kreative Erfinden von eigenen Ideen von Anfang an durchdrungen sind. Dazwischen erscheinen immer wieder auch Informationen aus dem Bereich Orgelbaukunde wie z. B. die verschiedenen Teilwerke einer Orgelanlage, wobei auch die deutschen, französischen und englischen Fachbegriffe synoptisch mitgelernt werden (z. B. „Hauptwerk – Grand Orgue – Great“).
Die meist kurzen, anschaulichen Literaturbeispiele stammen sowohl von „historischen“ Komponisten als auch von den im Vorwort genannten, die Publikation unterstützende Kolleg*innen. Was die Auswahl der Literatur und auch der Improvisations-Stile anbelangt, wird nicht unbedingt chronologisch vorgegangen, sondern nach einem Kapitel „Romantik II“ kommt beispielsweise ein Abschnitt „Barockzeit II“, die einzelnen Stilistiken erscheinen nach und nach immer wieder, werden aber inhaltlich vertieft und differenziert.
Band 2 der Innovativen Orgelschule verfährt in ähnlicher Weise: die verschiedenen Literatur-Stilistiken werden wieder aufgegriffen und wechseln, werden aber jedes Mal mit mehr Information und Anforderung versehen. Dazwischen wird das Literaturspiel durchsetzt mit Anleitungen zur Improvisation und Gemeindeliedbegleitung. Dabei werden die Schüler*innen mit verschiedens­ten Begleittechniken bekannt gemacht; auch liches Lied (NGL) wird Raum gegeben.
Es gibt zum Beispiel eine ganze Übungseinheit zum Thema „Choralpartita“ und Cantus-firmus-Bearbeitungen, aber auch andere Formen wie Menuett oder Scherzo, romantische kleine Charakterstücke und moderne Fanfaren finden ihren Platz.
In Band 3 erfahren die verschiedenen musikalischen Stile, mit denen die oder der Lernende schon im 1. und 2. Band vertraut gemacht wurde, weitere Vertiefung.
Beim Thema Barock heißt das z. B. das Eintauchen in die norddeutsche „phantas­tische“ Orgelwelt eines Dietrich Buxtehude bei gleichzeitiger wachsender Ausdifferenzierung an Anschlags-Artikulation.
Typische Barocke Topoi wie Quintfall­sequenzen werden in Übungen erlernt. Auch Bachs Orgelbüchlein, seinerseits eine Art multiple Orgelschule für Orgelliteraturspiel vor allem hinsichtlich eines obligaten Pedalgebrauchs und gleichermaßen für liturgische Komposition und Improvisation, wird thematisiert. Bei der Behandlung alter Stile darf natürlich der Komplex historische Stimmungen und Tonartencharakteristik nicht fehlen, auch diese Aspekte werden angesprochen. Außer dem „barocken“ Kapitel werden Variationswerke, Neues Geistliches Lied und Improvisationen im modernen Stil behandelt, darunter auch die Modi von Olivier Messiaen.
Band 4 wartet mit einer originellen Idee auf: Zu Anfang wird Mendelssohns Reise durch Europa von 1830–32 beschrieben. Dabei wird seine Passacaglia (eigentlich „Ostinato“) analysiert und als Improvisa­tionsvorlage genutzt. Neben dem Verweis auf Mendelssohns Orgelsonaten und Bemerkungen über seine Registriertechnik reisen die Leser*innen dieses Bandes quasi selbst mit und werden mit einflussreichen Organisten und Kompositionen (nicht nur von Mendelssohns Zeitgenossen) aus den jeweils bereisten Regionen Österreich, Süddeutschland, Italien, der Schweiz, Belgien und den Niederlanden, Frankreich und England bekannt gemacht.
Interessant ist auch das nächste Kapitel dieses Bandes, das kreative Ausgestalten bereits notierter Lied-Begleitsätze sowie die späteren Bemerkungen zur französischen Orgelmesse und zum weiten Feld der Registrierkunst, neben anderen mannigfaltigen Sujets, auf die eingegangen wird.
Im Band 5 schließlich findet sich ein Notenanhang für Literatur, Improvisation und Liedbegleitung von immerhin über 200 Seiten, und Band 6 bietet abschließend weiteres Ergänzungsmaterial, Hintergrundwissen sowie diverse (Literatur-) Verzeichnisse.
Nachdem der Rezensent sich durch 1472 (!) Seiten hindurchgearbeitet hat, bleibt nun in aller notwendigen Kürze der Versuch eines Fazits:
Die Innovative Orgelschule von Andrea Kumpe ist in ihrer Art eines „ganzheit­lichen“ Ansatzes rund um das Thema Orgelspiel ein Novum.
Die Schüler*innen, Student*innen (und die das Kompendium verwendende Päda­gog*innen!) sind ständig gezwungen, zwischen verschiedenen musikalischen Stilen, Wissensständen und Disziplinen wie Literaturspiel, Liturgischem Orgelspiel und Improvisation sowie Komposition hin- und herzuspringen. Dazu gibt es eine Fülle an historischen Zitaten von Komponisten, Organisten und Pädagogen verschiedener Epochen. Man wird von Anfang an über die Funktionsweise der Orgel sowie Regis­trierung zusätzlich begleitend informiert.
Meiner Meinung nach ist es unabdingbar, dass diese Schule gerade von Anfängern bei aller Differenziertheit nicht zum Selbststudium verwendet wird, sondern
eine pädagogisch erfahrene Persönlichkeit diese unglaubliche Fülle an Information und diversen Aufgabenstellungen an die Schüler*innen mit Fantasie und Flexibilität he­ranträgt. Dabei erreicht die Schule, besonders was den Teilbereich Improvisation angeht, schon im 2. Band ein Niveau, das schon an Kirchenmusikschulen und Hochschulen zu finden ist.
Die Schule könnte daher ein guter Weg sein, das immer noch häufig anzutreffende Übergewicht von Literaturspiel gegenüber dem Liturgischen Orgelspiel und der Improvisation ins rechte Verhältnis zu setzen.
Der Rezensent spricht da aus eigener langjähriger Hochschulerfahrung an diversen Häusern, an denen das Fach Liturgisches Orgelspiel und Improvisation „nur“ mit Lehraufträgen besetzt und das Literaturspiel ausschließlich von Professor*innen unterrichtet wurde und wird.
Auch auf dem Wege hin zur Hochschulausbildung könnte die Innovative Orgelschule eine sehr gute Vorbereitung sein, denn wie oft spielen die Aspirant*innen für ein Kirchenmusikstudium bei der Aufnahmeprüfung in Literatur die schwierigsten Werke, und dann werden nicht selten gen Schluss noch quasi nebenbei eine oder zwei Choral-Harmonisationen bewältigt, im besten Falle noch mit einer kleinen Intonation (meist ohne Pedal). Wie bitteschön soll denn dieses Ungleichgewicht an Eingangsvoraussetzung zwischen Literatur und Improvisation in den paar Semestern Studium ausgeglichen werden? Wie kann es denn sein, dass eine angehende Kirchenmusikerin ein Ad nos von Franz Liszt oder Bachs Fantasie und Fuge g-Moll BWV 542 (ein Werk, für das selbst Felix Mendelssohn nachgewiesenermaßen viel üben musste) im Examen mit großer Begeisterung und Freude hervor­ragend interpretiert, sich aber vor der Prüfung im Liturgischen Orgelspiel fürchtet, selbst vor kleinen Vorspielen und einfachen Choralbegleitungen? Natürlich mag das zum Glück auch oft anders sein, aber leider immer noch mehr Ausnahme als Regelfall.
Insofern ist die Innovative Orgelschule auch für alle Lehrenden im Fach Orgel interessant, ist sie doch geeignet, das eigene päda­gogische Wirken, an welcher Stelle und Position auch immer, einmal neu zu hinterfragen, eine gewisse Ehrlichkeit mit sich selbst natürlich vorausgesetzt im Hinblick auf folgende Aspekte: Bin ich stilistisch breit genug aufgestellt? Bringe ich meinen Schüler*innen und Student*innen auch Stilistiken und Komponist*innen nahe, die auf meiner persönlichen Präferenzliste nicht unbedingt weit oben stehen? Mache ich die mir Anvertrauten auch mit den Themen Orgelbau, Registrierung, Orgellandschaften etc. in genügender Weise bekannt? Welchen Raum nimmt bei meinem Unterricht das Thema Improvisation/Liturgisches Orgelspiel ein? Bereite ich meine Kirchenmusikstudent*innen auf die Berufspraxis vor oder erziehe ich sie eher zu Konzertorganist*innen?
Zum Glück zeichnet sich inzwischen ein deutschlandweiter Trend ab, bei Ausschreibungen für Orgelprofessuren immer öfter neben dem reinen Literaturspiel auch die Improvisation bei der Stellenbeschreibung explizit mit einzubeziehen.
Dass diese Balance von Improvisation und Literatur von Anfang an möglichst früh gefordert und gefördert wird, dafür (und bei weitem nicht nur dafür) leistet die Innovative Orgelschule von Andrea Kumpe einen ganz hervorragenden und wahrlich innovativen Ansatz.
Christian von Blohn