Matthias Schneider

Handbuch Aufführungspraxis Orgel

Band 1: Vom Mittelalter bis Bach

Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2019, 267 Seiten, 49,95 Euro
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/03 , Seite 52
Der deutsche Klassiker, Jon Laukviks Orgelschule zur historischen Aufführungspraxis, erschien 1990, neben Mittel- und Schwergewichten anderer Nationen wie Soderlund, Ahlgrimm, Lindley, Koopman, Brock, van Ree Bernard, Ritchie-Staufer. Hat Matthias Schneider nun etwas Neues zu bieten? Kapitelweise werden Mittelalter und Renaissance, Norddeutsche Tabulaturen, Frescobaldi, Sweelinck, Scheidt, Buxtehude, Froberger-Pachelbel-Muffat, Ca­bezón-Arauxo-Cabanilles, Couperin und J. S. Bach behandelt.
Feststellen lässt sich, dass sämt­liche anderen Autoren zur Historically Informed Performance (HIP) wesentlich quellenbezogener und materialreicher arbeiten als Schneider, der in freundlichem Plauderton zusammenfasst, was man seit Ritter, Frotscher, Apel usw., vor allem aber aus den aktuellen Editionen der einzelnen Komponisten bereits weiß. So ist der Scheidt-Abschnitt S. 99 ff. ein Kompilat aus „alten Bekannten“ wie Mattheson, Mahrenholz, Koch, Vogel, einschließlich der anfechtbaren Begriffe „Hamburgischer Organistenmacher“ und „Sweelinck-Schule“. Wenn sechs Seiten Fließtext ohne ein Notenbeispiel auskommen (S. 99–104), signalisiert das Breite und nicht Tiefe zum Thema HIP. Dieser Begriff wird von Schneider in besonderer Weise akzentuiert: Es geht um „meine Ideen“ (S. 8), „Inspirationen und praktische Anleitungen zu einem historisch informierten Orgelspiel“ sowie „Auseinandersetzung mit den Konventionen“ (jeweils U4).
Hier beansprucht ein subjektiver, intuitiver Zugriff die Vorfahrt vor der streng auf Objektivität bedachten wissenschaftlichen Maxime des „Sinn muss herausgeholt, nicht hi­neingetragen werden“ (Sensus efferendus), der erkenntnisschöpfenden Arbeit an, nicht nur mit Quellen etwa zur Illustration oder Garnierung. So wird der Terminus Quantitas intrinseca notarum mehrmals verwendet (S. 19 ff.), ohne dass der Leser Urheber und Herkunft erfährt (nämlich Wolfgang Caspar Printz 1668). Zu Ammerbachs Orgel oder Instrument Tabulatur (1571) heißt es: „Der Titel der Sammlung lässt zudem offen, ob auf der Orgel oder auf anderen [Melodie-]Instrumenten gespielt werden soll“ (S. 16) – eine falsche Inspiration, da zeittypisch instrumentum schlicht besaitetes Tasteninstrument, Ammerbach also Orgel oder Clavichord bzw. Cembalo, meint.
Für eine deduktive Zusammenfassung (Handbuch) scheint es viel zu früh zu sein, zu mager sind die bisherigen, induktiv erworbenen Kenntnisse. Aktuell kann das Fazit, biblisch ausgedrückt (Dan. 5, 25 ff.), daher nur lauten: Mene, Tekel. Gewogen, und für (viel) zu leicht befunden.
Klaus Beckmann