Karl-Peter Chilla

Fukushima op. 45/1 / Tschernobyl op. 45/2 für Orgel

Verlag/Label: Edition Merseburger 1864
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2020/02 , Seite 63
Im Vorwort der Notenausgabe von Karl-Peter Chilla heißt es: „Beide Werke beginnen feierlich und als Zeichen für eine ,heile Welt‘ mit der Nationalhymne des jeweiligen Landes, führen über ein sich langsam he­raufziehendes Unheil in die Beschreibung des Desasters, das die Nuklearkatastrophe auslöst. Nach diesem Schock wird versucht, eine neue Normalität zu finden. Aber es gelingt schwer. Nichts ist mehr wie vorher!“
Mit Werken wie Edvard Munchs Der Schrei (1891) oder Krzysztof Pendereckis Threnos. Den Opfern von Hiroshima (1960) sowie vielen weiteren Kunstwerken wurde, insbesondere im 20. Jahrhundert, auf große Katastrophen und auf den Holocaust künstlerisch reagiert, mit Orgelwerken gerade von den Komponisten Mauricio Kagel (1931–2008) und György Ligeti (1923–2006): Dort übertrug sich im Schmerz bers­tender Atonalität ein Verständnis von Betroffenen (die die Familien dieser Komponis­ten oft selbst waren). Ganz bewusst haben diese Werke keinen direkten Zusammen­hang zwischen kompositorischem Material (z. B. einem Clus­ter) und einer außermusikalischen Deutung hergestellt; selbst in den Titeln findet sich dieser Bezug nie. Diese Werke steigen in die künstlerische Tiefe der Existenz und sind gerade nicht im Abbilden und Nachahmen oberflächlich tonmalerisch.
Der 1949 geborene Kirchenmusiker, Organist und Komponist Karl-Peter Chilla wählt einen anderen Weg. Zu Fukushima erklingt eine „tonmalerische“ Umsetzung des „Seebebens“, der „dadurch entstehenden Wellen“ in d-Moll oder des „Auftreffens der Wellen am Atomkraftwerk“ (Vorwort). Zur Katastro­phe von Tschernobyl hört man eine „Versuchsreihe, die außer Kontrolle gerät“ (Vorwort) in Trillern verminderter Akkorde im Westernrhythmus.
Wie sieht der Notentext konkret aus? Das beschriebene Motto greift auf eine Methode zurück, die sich
z. B. auch in Mussorgskys Bildern einer Ausstellung mit der beginnenden „Promenade“ findet. Ein theatralischer Anfang, Bewegungen, To­nalität und schließlich cluster­ähn­liche Gebilde, die sich wieder in zitathaften Klängen zu einem Kinderlied zurückwenden. Chilla resümiert: „Mit der Hoffnung auf eine bessere Welt klingen beide Stücke mit einem Kinderlied aus und geben so viel Raum für Nachdenkliches. Diese Kompositionen werden die Zuhörer in ihren Bann ziehen und in ihnen starke Emotionen auslösen.“
Der Rezensent findet, dass der Komponist sich solcher Aussagen enthalten sollte. Was die Rezeption auslöst, sei den Zuhörern überlassen. Wer komponiert, um beim Hörer „starke Emotionen“ auszulösen, stellt eher die Wirkung als die Arbeit mit dem musikalischen Material und den Tönen in den Mittelpunkt. Mit dem Einblenden der Nationalhymne kann man sich die Musik eher als Begleitung eines Katastrophenfilms vorstellen, als dass sie wirklich dem entstandenen Unheil im Kunstwerk ein Gegenüber schafft, auch wenn sie, wie hier der Fall, satztechnisch gut gemacht ist.
Inwiefern können und dürfen wir uns im reichen und fernen Deutschland zu den besagten Katastrophen mit Zehntausenden Toten künstlerisch äußern? Zeugt es nicht von Überheblichkeit, eine illustrierende Tonmalerei zu verfassen, die am Schmerz der Betroffenen vorbeigeht? Komponist Chilla wird es nicht so gemeint haben, aber ist nicht das Zitat des Dalai Lama im Vorwort: „Unser Planet ist unser Zuhause … Wo sollen wir hingehen, wenn wir ihn zerstören“, als mahnender Spruch eines Außenstehenden angesichts des immensen Leids deplatziert? 

Dominik Susteck