Bella Kalinowska und Semjon Kalinowsky
From Jewish Life
Bearbeitungen für Viola (Violoncello) und Orgel
Die Geschichte der Orgel im Judentum geht bis auf den Zweiten Tempel in Jerusalem zurück, der im Jahr 70 durch die Römer niedergebrannt worden ist. Dort soll es ein orgelähnliches Instrument namens „Magrepha“ gegeben haben. Nach der Zerstörung wurde Instrumentalmusik im Tempel als Ausdruck der Trauer verboten, die Orgel verlor so für lange Zeit ihre Bedeutung im Judentum. In Deutschland wurde 1810 die erste Orgel in einer Synagoge in Seesen am nordwestlichen Harzrand aufgestellt. In der Folge erhielten viele Synagogen Orgeln. In der Reichspogromnacht 1938 wurden fast 200 von ihnen vernichtet.
„Im ausgehenden 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte die jüdische liturgische Musik in Europa ihre erste Blütezeit. Der vorliegende Band enthält Bearbeitungen von Werken, die der von der Spätromantik inspirierten jüdischen Tradition dieser Zeit entstammen. Im Fokus steht die faszinierende Vielfalt dieser Musik, in der Geistliches und Weltliches, Religion und Alltagsleben des jüdischen Volkes miteinander verschmelzen“, verspricht der Klappentext. Der Komponist Ernest Bloch, der von sich selbst behauptete, dass er „weder ein Gläubiger noch ein Atheist“ sei, hat über den Geist seiner Musik einmal gesagt: „Ich bin Jude. Ich bin bestrebt, jüdische Musik zu schreiben, nicht, weil ich mich selbst anpreisen möchte, sondern weil es die einzige Möglichkeit ist, wie ich Musik voller Lebendigkeit schaffen kann.“ Gut, dass es sich das Künstlerehepaar Bella und Semjon Kalinowsky zur Aufgabe gemacht hat, „Musik von zu Unrecht der Vergessenheit angeheimgefallenen Komponisten insbesondere des 19. Jahrhunderts“ mit großem Entdeckerwillen wieder aufzuspüren und diese in praktischen Ausgaben zur Verfügung zu stellen!
Für Viola bzw. Violoncello und Orgel wurden die in dieser Ausgabe vorgestellten Werke bearbeitet, die im Original überwiegend für Violoncello und Klavier besetzt sind. Der Schwierigkeitsgrad der Orgelstimme liegt im mittleren Bereich. Der Ausgabe sind eine Viola- und eine Violoncello-Stimme beigegeben. In der Spielpartitur herrscht eine gewisse Unklarheit über die tatsächlich gewünschte Besetzung. So findet sich etwa über Samuel Almans Haftara oder über Fernand Gustave Halphens Andante religioso d’après un thème hébraïque die Anmerkung „für Viola und Orgel bearbeitet“ – abgedruckt wird aber jeweils die Violoncellostimme. Die Botschaft – gerade, weil es eine Ausgabe aus dem sonst so peniblen Hause Bärenreiter ist – lautet wohl: macht es doch, wie ihr wollt!
Grundlage der allermeisten Werke in dieser Ausgabe ist eine hebräische Volksmelodie oder ein religiöses jüdisches Thema. So schafft es auch Maurice Ravel als einziger nicht-jüdischer Komponist mit seinem Kaddisch, einem der zentralen Gebete des Judentums, in diese Ausgabe. Es ist dieser klagende und gleichzeitig hoffnungsfrohe Tonfall, der Tonfall eines geknechteten, aber des von Gott auserwählten Volkes, der diese Stücke so persönlich macht, jeden (vielleicht) ein wenig irritiert aufhorchen lässt und ohne Umwege vom Ohr direkt ins Herz geht. Es ist nicht einfach nur Musik – es ist die verklanglichte Geschichte eines ganzen Volkes. Eine Musik, die durch diese Ausgabe dankenswerterweise nun auch uns zur praktischen Verfügung steht.
Ralf-Thomas Lindner