Ex Tempore

The Art of Organ Improvisation in England

Verlag/Label: Fugue State Films FSFDVD005 (2011)
erschienen in: organ 2012/01 , Seite 58

Der organistische „Mainstream“ hat seinen Blick von Frankreich wieder ein wenig abgewandt und schaut nun zunehmend auch staunend nach England. Die Vielzahl jüngst nach Deutschland translozierter Instrumente belegt diesen Trend ebenso wie der nicht selten kümmerliche Versuch, auf jede noch so „wesensfremde“ Nachkriegs-Orgel der Spaltklang-Epoche quasi posthum nachträglich eine englische Tuba aufzupfropfen, um mit den Pretiosen des britischen Repertoires aus der viktorianischen Ära zu glänzen.
Mit seiner ambitionierten DVD/ CD-Produktion Ex Tempore wandelt Ronny Krippner auf diesen frisch getretenen Pfaden der aktuellen Anglomanie und steuert mit Stilimprovisationen von der Renaissance bis zur Gegenwart sein Scherflein bei. Krippners Anliegen ist eine Demonstration, wie „Englands berühmteste Organisten und Orgelkomponisten – William Byrd, George Frederic Handel, Charles Villiers Stanford und Herbert Howells – auf der Orgel improvisierten und wie die jeweiligen Orgelbaustile ihr Spiel beeinflussten“.
Wer häufig auf der Insel unterwegs ist und sich die traditionsreichen „Evensongs“ in den Kathedralen nur ungern entgehen lässt, kann mit der Zeit sicherlich eine bestimmte anglikanische Impro­visationsmanier ausmachen. Mitnichten aber wird er von einem britischen Organisten ein Stegreifspiel im Stile eines Tallis, Byrd, Purcell oder Britten als Präludium zum Gottesdienst hören. Dazu ist der mit der mit britischem Understatement ausgestattete Engländer zu sehr Pragmatiker. Warum sollte er ein Voluntary im Stile von Purcell improvisieren, wenn es doch entsprechende Originalliteratur gibt? Wer in der großen Tradition der englischen Kathedralmusik groß geworden ist, dem sind Stil­imitation oder gar Kopie wesensfremd – weil letztlich anmaßend.
Warum also, so möchte man fragen, muss es dann ausgerechnet ein Deutscher sein, der uns mit der vorliegenden Produktion eine Retrospektive einer vermeintlich englischen Art der Orgelimprovisation beschert? Bei aller durchscheinenden Begeisterung für die englische Orgel(musik) – von einer wirklich geistigen Durchdringung der Materie kann bei Ronny Krippner folglich auch nur bedingt die Rede sein.
Mit dem zu weit gespannten Bogen von 500 Jahren Musikgeschichte erliegt Krippner zwangsläufig der Fülle des Materials, um am Ende doch mit formelhaften Klischees ein weithin undifferenziertes, wenig reflektiertes England-Bild zu zeichnen. Gelingen ihm die formal überschaubaren Renaissance- und Barockkopien noch einigermaßen gut, so erscheint gerade das Filetstück der „Victorian Organ Sonata“ mit knapp acht Minuten Spieldauer eher als groteske Karikatur. Eine irgendwie gelungene Synthese des Form- und Sprach­vokabulars dieser Epoche findet man bei dieser Dokumentation leider nicht. Da wäre eine authentische Sonate aus dem reichhaltigen britischen Repertoire allemal interessanter und lehrreicher gewesen. Eine entscheidende Einsicht vermittelt diese Produktion am nachhaltigsten: England ist halt immer noch in England am attraktivsten!

Wolfgang Valerius