Elliptic Curves
Evelin Degen, Flöte; Matthias Geuting an der Walcker-Orgel in der Evangelischen Kirche Essen-Werden
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Das originale Repertoire für Flöte und Orgel ist durchaus überschaubar, sieht man einmal von den vielen Musikstücken ab, in denen die Flöte als Soloinstrument fungiert und die Orgel als Clavier-Instrument noch mit „C“ geschrieben worden ist. Dabei sind Flöte und Orgel – schon durch ihre teilweise gleichartige Tonerzeugung – zwei Instrumente, die gut miteinander harmonieren können.
Auf dieser CD wurden sieben Kompositionen eingespielt, die in den letzten Jahren von den beiden Interpreten angeregt oder in Auftrag gegeben wurden: Carter Williams (*1976) – Elliptic Curves für Piccolo, Glissandoflöte, Kontrabassflöte und Live-Elektronik (2020), Farziah Fallah (*1980) – Verwandeltes Lichtgrün III für Orgel und Bassflöte (2011/2021), Erik Janson (*1967) – Farben – Nuancen – Räume für Glissandoflöte und Orgel (2019), Kyle Bartlett (*1971) – Book of spells für Bassflöte und Orgel, Yasuko Yamaguchi (*1969) – Unterbrochene Landschaft für Piccolo und Orgel (2021), Friedrich Jaecker (*1950) – Nehrung für Bassflöte und Orgel (2020) und Peter Eisold (*1959) – Subutex für Flöte (auch Alt- und Bassflöte) und Orgel mit Zuspielung (2019).
Das liebevoll gestaltete Booklet stellt einige wichtige Fragen: „Wenn zwei an einem Strang ziehen, ist noch nicht ausgemacht, in welche Richtung: beide in dieselbe, oder ziehen sie an verschiedenen Enden? Musikalisch gesprochen: Sind die beiden ein Duett, das zwei Stimmen hat, aber gewissermaßen nur eine Geschichte erzählt, vielleicht sogar die Geschichte einer geteilten Leidenschaft? So wie in einem der berühmten Liebesduette der Oper? Oder sind die beiden Konkurrenten, gar Gegner? Zu verschieden in Temperament und Herkunft, um miteinander klarzukommen? Oder können sie vielleicht doch miteinander, wissen das aber noch nicht und müssen es erst noch herausfinden?“ Die Komponisten der eingespielten Werke versuchen auf ihre je eigene Art und Weise, sich diesen Fragestellungen zu nähern. Zwei fast vor Urzeiten erfundene Instrumente lassen sie dabei Töne hervorbringen, die deren Erfinder wohl noch nicht in Betracht gezogen haben: Diese Art, die Instrumente zu behandeln, zu spielen, hätten sie wohl als „fragwürdig“ bezeichnet. Beide Instrumente werden hier u. a. mit verändertem Winddruck verwendet. Dies führt zu interessanten klanglichen Nuancen.
Neben unterschiedlichen Flöten und der menschlichen Stimme wird mit Elektronik und Zuspielbändern gearbeitet. Durch die Aufstellung bzw. die Bewegung der Solistin im Verhältnis zur Orgel entsteht gelegentlich so etwas wie „Raum-Musik“. Der Hörer wird mit Dialogen sehr differenter Faktur konfrontiert, er soll synästhetische Wahrnehmungen haben und dies räumlich in seinem Volumen, aber auch seiner scharfen Kontur zu anderen Räumen wahrnehmen. Am Ende aber bleibt nur Subutex – der abgehalfterte Romanheld Vernon Subutex von Virginie Despentes. Ob der Komponist auch an das leicht halluzinogene Schmerzmittel „Subutex“ gedacht hat, muss der Hörer selbst entscheiden – diesen aber verdient die CD voll und ganz! Chapeau!
Ralf-Thomas Lindner