Werke von F. Anderssen, L. Solberg, S. Islandsmoen, A. Sandvold, Th. Salvesen, F. Spalder und L. Nielsen Magne

Echoes of Leipzig in Nidaros Cathedral

Harry Draagen an der Steinmeyer-Orgel des Nidarosdoms in Trondheim (Norwegen)

Verlag/Label: LAWO LWC1208 (2021)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2021/02 , Seite 63

Klar gibt es viele gute Orgel-CDs – aber kaum eine, die so konsistent und überzeugend eine Geschichte zu erzählen weiß wie die vorliegende, die jetzt beim norwegischen Label LAWO erschienen ist. Organist Magne Harry Draagen erklärt die Geschichte im Booklet so: „Es war mein Wunsch, einige Werke der norwegischen Orgelmusik zu kompilieren, die ihre Ursprünge in der deutschen Spätromantik und der Stadt Leipzig mit Max Reger und Karl Straube als deren Hauptexponenten haben.“ Und weiter heißt es in dem instruktiven Text: „Die Essenz dieser Kollektion norwegischer Orgelwerke ist, dass die Doppelform Introduktion, Toccata und Fuge bzw. Introduktion, Toccata und Passacaglia, die Reger von Bach übernommen hatte, weiterlebt und dabei im Hinblick auf Form und Klang stark von der überwältigenden Leipziger Tradition bestimmt ist.“
Um das Konzept der CD zu verstehen, muss man wissen, dass der Reger-Freund und -Förderer Karl Straube (1873–1950), ohne den Regers Orgelmusik und -rezeption nicht denkbar ist, auch gute Verbindungen nach Norwegen hatte. 1919 kam Straube nach Kristiana, um für norwegische Organisten Kurse abzuhalten, was er in den Jahren 1920 und 1921 wiederholte, als er Gastdirigent des Nordischen Bach-Fes­tivals war. Sein regelmäßiger Kontakt mit Norwegen führte dazu, dass Leipzig ein begehrter Studienort für junge Norweger wurde.
Diesen „Echoes of Leipzig“, die in den Werken der Norweger nachhallen, spürt das Album also nach. Und das geschieht hier nicht an „ir­­gendeiner“ Orgel einer „beliebigen“ Kirche, sondern an der Steinmeyer-Orgel des Nidaros-Doms in Trondheim, dem norwegischen Nationalheiligtum schlechthin. Das 1930 von der Firma G. F. Steinmeyer & Co. aus Oettingen erbaute, 2012–14 von der Orgelbau Kuhn AG aus Männedorf (Schweiz) grundrestaurierte Instrument mit seinen 125 klingenden, zwölf transmittierenden und zwei Effekt-Registern zählt zu den mächtigsten und klangschönsten romantischen Orgeln auf der ganzen Welt.
Auch wenn die meisten der hier versammelten Komponisten außerhalb von Norwegen kaum bis gar nicht bekannt sein dürften, so schmälert diese Tatsache die Hör- und Entdeckungsfreuden bei der Beschäftigung mit diesem Album nicht im Geringsten, im Gegenteil. Alle von Draagen kongenial eingespielten Werke haben Substanz und überzeugen sowohl hinsichtlich ihrer formalen und instrumentengerechten Gestaltung als auch in Bezug auf ihre vielen Klang- und Farb­valeurs.
Und damit es auf der CD nicht allzu akademisch zugeht, hat Draagen den „beinharten“ Toccaten, Passacaglien und Fugen ein paar zartschmelzende Köstlichkeiten wie etwa die beiden „Pastorale“ überschriebenen Sätze von Leif Solberg (1914–2016) und Frithjof Spalder (1896–1985) sowie das „Nocturne“ aus der Orgelsonate op. 50 von Sigurd Islandsmoen (1881–1964) an die Seite gestellt. Diese spätromantisch empfundenen Stücke hätte der selbsternannte „Accordarbeiter“ Max Reger in seiner unnachahm­lichen Art vielleicht „pflaumenweiche Dinger“ genannt – eine Formulierung, die er selbst für seine Sonaten op. 116 und op. 122 prägte.
Auch die Seks improvisasjoner von Arild Sandvold (1895–1984) verlassen das gelehrte Schema, indem sie sakrale Klänge mit folkloristischen Motiven mischen. Zu den Höhepunkten der ohnehin schon starken CD geraten die monumentale und harmonisch äußerst komplex gestaltete Passacaglia for orgel von Thomas Salvesen (1915–95) sowie die nicht minder imposante Komposition In­tro­duktion og fuge von Ludvig Nielsen (1906–2001).
Fazit: Eine exzeptionelle CD, die neben weitgehend unbekanntem, dabei durchweg hochkarätigem Re­pertoire – dargeboten von einem begnadeten Organisten auf einer der schönsten romantischen Orgeln überhaupt – auch tiefe Einblicke in ein bis dato viel zu wenig beachtetes Kapitel der norwegisch-deutschen Musikgeschichte bietet.

Burkhard Schäfer