Johann Sebastian Bach

Dritter Theil der Clavier Übung

Andreas Fischer an der Flentrop-Orgel von St. Katharinen in Hamburg

Verlag/Label: Dabringhaus und Grimm MDG 906 2120-6 (2019)
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/04 , Seite 60

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Gewiss wäre es Johann Sebastian Bach nicht in den Sinn gekommen, Teil III der Clavier Übung samt und sonders der Reihe nach vorzutragen, handelt es sich doch um eine Sammlung gelehrter „Kunst-Stücke“: ein Kompendium einer damals schon aus der Übung geratenen Gattung, mit der Bach bei der Organistenprobe in St. Katharinen anno 1720 den greisen Adam Reincken in Erstaunen gesetzt hatte: der Kunst des (improvisierten) Choralvorspiels.
Heutige Gesamtaufführungen und -einspielungen von Werkreihen oder -sammlungen, die vom Komponisten gar nicht zyklisch angelegt sind, entspringen dem enzyklopädischen Ehrgeiz und dokumentarischen Eifer des Medienzeitalters. Verständlich, dass sich bei Teilnehmern der jüngsten Hamburger Orgeltagung Ermüdungserscheinungen einstellten, während Andreas Fischer an der Flentrop-Orgel zu St. Katharinen die großen Choralbearbeitungen aus Bachs Clavier Übung Teil III samt Präludium und fünfstimmiger Schlussfuge erbrausen ließ (vgl. den Bericht in organ 3/2019). Wobei der Organist selbst einräumte, die „raschen Wechsel von großrahmigen Sätzen und solchen in filigraner, kammermusikalischer Faktur“ seien in der diffusen Akustik von St. Katharinen problematisch. Weshalb sich eine 32-füßig „großposaunte“ Registrierung der von Bach mit organo pleno gekennzeichneten Stücke kaum empfehlen dürfte.
Was freilich nicht gegen eine Dokumentation der Werksammlung auf CD spricht, sofern die Klangvorstellungen des Interpreten und die auf unverfälschte Wiedergabe geeichte Ästhetik der Tonmeister zusammenfinden, was hier der Fall ist. Zudem kann der Nutzer am heimischen Gerät Stückauswahl und Lautstärke selbst bestimmen. Auf diese Weise relativiert sich dann auch der Eindruck massiger Regis­trierungen und geballter Kontrapunktik, den der Live-Vortrag offenbar hervorrief.
Von Peter Wollny im Beiheft kenntnis- und aufschlussreich kommentiert, gibt das fast zweistündige Recital des glänzenden, seit 1994 an der Hamburger Hauptkirche amtierenden Kantors und Orgelvirtuosen Andreas Fischer einen Begriff davon, auf welch kunstgelehrte und zugleich sinnesfrohe Art Bach hiermit eine neue Ära der Orgelmusik begründete. Umfangen von einem majestätisch ausufernden Präludium und einer monumentalen Tripelfuge BWV 552/1 und 2, reiht er 21 Choralbearbeitungen in Form einer großen Orgelmesse aneinander. Wobei es ihm darum ging, seinen Zeitgenossen und zumal der nachwachsenden Generation den Ty­pen­reichtum und die Gestaltvielfalt
einer verfallenden Gattung ins Gedächtnis zu schreiben.
Dieses „Kunstbuch“ auf der großen, 1943 weitgehend zerstörten, 2009 bis 2013 vom niederländischen Orgelbouw Flentrop unter Verwendung von 520 (vor dem Bombardement ausgelagerten) historischen Pfeifen nachgebauten Katharinenorgel zu hören, ist ein Klangerlebnis sondergleichen. Der „Geist des frühen 18. Jahrhunderts“ scheint nahe. Konnte Bach doch die „Schönheit und Verschiedenheit“ der 16 Zungenstimmen des „in allen Stü­cken vortrefflichen Werkes“ nicht genug rühmen.

Lutz Lesle