Die Wochenlieder zum EG Choralvorspiele für Orgel

Band 1 (Advent bis Pfingsten) und Band 2 (Trinitatis bis Ende des Kirchenjahres)

Verlag/Label: Carus 18.221/10 und 18.221/20
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2020/03 , Seite 57

Choralvorspiele kann man für die gottesdienstlich praktische Arbeit eines Organisten nicht genug zur Verfügung haben! Sie sind nicht nur Einleitung und Vorbereitung zum ihnen folgenden Choral – sie sind eigenständige musikalische Momente, die den Charakter eines gesamten Gottesdienstes beeinflussen, ja, prägen können, wenn sie bewusst ausgewählt und geschickt eingesetzt werden. Gerade für nebenamtliche und der fantasievollen Improvisa­tion nicht so kundige Organisten ist der Griff zur Orgelliteratur kein Eingeständnis eigener Defizite, sondern kann ein klares Bekenntnis zu einem sowohl künstlerischen als auch theologischen Mitgestaltungswillen sein.
Ingo Bredenbach verweist in seinem Vorwort zu den Wochenliedern zum EG auf die auch gerade in der kirchenmusikalischen Ausbildung gepflegte Praxis, des „‚ex momento‘ Musik zu erfinden, also aus dem Stegreif zu spielen“. Er verschweigt aber auch nicht, dass selbst ein so angesehener Organist wie Johann Gottfried Walther in einem Brief bekennt, dass er weder „,ex tempore praeludieren, und insbesondere die Kirchen-Gesänge auf vielerlei Art variieren‘ könne, noch dazu fähig sei, auswendig zu spielen, sondern gar ‚seine eigenen Sachen jederzeit vom Papiere tractieren‘ müsste“.
Bedauerlich ist es, dass Bredenbach hier keinerlei theologische oder liturgische Gedanken zum Wochenlied äußert, außer der Sorge, dass „Musik zur Klangfassade für ein religiöses Geschehen wird“. Für ihn ist „die vornehmste Aufgabe des Choralvorspiels die der Vorbereitung des anschließend zu singenden Chorals“. Dazu bedürfe es seiner Meinung nach „qualitätvoller Choralbearbeitungen“. Immerhin! – Zu den Liedern, die oft gesungen werden, bei denen mehrere Lieder auf eine Melodie gesungen werden, und bei den Liedern, die in Vorgänger-Gesangbüchern des EG nicht vorhanden waren, ist die Auswahl an gedruckten Choralintonationen und -vorspielen nach wie vor zu gering, um diese abwechslungsreich und nicht ermüdend einsetzen zu können.
Das Wochenlied nimmt inhaltlich eine besondere Stellung ein; es ist wichtiger theologisch-reflektierender Bestandteil des Gottesdiens­tes. In ihm reagiert die Gemeinde inhaltlich auf die dieses Lied umrahmenden Schriftlesungen, nimmt deren Kerngedanken auf. Das Wochenlied wird durch die Perikopenordnung vorgegeben, gehört somit zum proprium missae. – Nach der neuen Auswahl und Ordnung der Lesetexte im Gottesdienst von 2018 war es notwendig, den biblischen Texten Lieder zuzuordnen, die thematisch zu ihnen passen, sie gleichsam erklären und kommentieren. Das Wochenlied ist somit in erster Linie eine musikalische Ausformung von Glaubensinhalten.
In der neuen Leseordnung sind jedem Sonntag und jedem besonderen Fest- und Gedenktag zwei Wochenlieder zur Auswahl zugeordnet. Zu beiden Liedern bietet diese Sammlung Vorspiele, also Stü­cke, die einen gesamten Durchgang des cantus firmus berücksichtigen. Soweit es die Komponisten nicht selbst getan haben, gibt Bredenbach Kürzungsvorschläge oder zusätzliche Schlussformeln an, die dann als kurze Intonation dienen können.
Choralvorspiele von insgesamt 72 Komponisten aus dem 18. bis 20. Jahrhundert werden angeboten. Unter ihnen finden sich einige wenige Klassiker und viele Wiederentde­ckungen: z. B. Paul Niepel (1856–1934) und Robert Frenzel (1850–1928). Immerhin etwa 40 Prozent der Vorspiele sind Originalkompositionen, die für diese Sammlung entstanden sind. Dies war insbesondere für die neueren Lieder notwendig, die nun Eingang in den Kanon der Wochenlieder gefunden haben, z. B. Holz auf Jesu Schulter oder Strahlen brechen viele.
Einzelne Kompositionen scheinen auf den ersten Blick die Dimensionen eines Choralvorspiels zu sprengen (Kurt Boßler: Und suchst du meine Sünde, Kurt Grahl: Wenn das Brot, das wir teilen, Bernhard Blitsch: Herz und Herz vereint zusammen). Sie sind aber gute Beispiele dafür, wie die Gemeinde sich mitlesend meditierend einem Choraltext nähern kann. Ob man nach diesen Werken das Lied tatsächlich noch mit der Gemeinde singt, sollte man im Einzelfall genau überdenken.
Ingo Bredenbach legt mit den Wochenliedern zum EG eine Sammlung vor, die reichhaltig und viel­fältig, praktikabel und nützlich ist, obendrein heftig ersehnt und dringend benötigt wird. Der Schwierigkeitsgrad ist so angelegt, „dass nebenberufliche Organist*innen die Werke innerhalb einer Woche erarbeiten können“, verspricht der Verlag. So sollte diese wunderbare Ausgabe zukünftig auf jeder Orgelbank vorhanden sein!

Ralf-Thomas Lindner