Beckmann, Klaus

Die Norddeutsche Schule – Orgelmusik im protestantischen Norddeutschland zwischen 1517 und 1755

Teil II: Blütezeit und Verfall. 1620-1755

Verlag/Label: Schott Music, Mainz 2009
erschienen in: organ 2009/04 , Seite 54

Der Begriff „Norddeutsche Schule“ ist eigentlich ein terminologisches Konstrukt der Musikwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Aufgrund jün­gerer Forschungserkenntnisse bedarf er wohl einer gewissen Revi­sion sowohl in zeitlicher wie territorialer Hinsicht: Der Kernspanne (1554-1740) „präludiert“ ein Vorlauf, am Ende folgt ihr eine epigonale Auslaufphase. Geografisch umfasste diese wohl profilierteste europäische Orgelschule alle Gebiete Norddeutschlands, Skandinaviens und des Baltikums, insoweit sich diese Luthers Lehre zugewandt hatten. Jene Orgelmusik kann also als Zeugin einer außergewöhnlich reichen und zugleich immer auch bodenständig gebliebenen Orgelmusikkultur gelten, die einerseits nationale – etwa süddeutsch-italienische – Stilmerkmale in sich aufzunehmen vermochte, andererseits soziokultu­reller Überfremdung zwei Jahrhunderte lang sehr erfolgreich trotzte.
Klaus Beckmann, Mitherausgeber u. a. der Reihe „Meister der Norddeutschen Orgelmusik“ im Mainzer Verlagshaus Schott Music, schildert in den seit Frühjahr 2009 vollständig vorliegenden Bänden I und II auf über 900 Seiten die theologie-, kultur- bzw. frömmigkeitsgeschicht­liche sowie spezielle musikhistorische Entwicklung des europäischen Nordens im konfessionellen Zeitalter; und dies von Anfang an, seit den umstürzenden Ereignissen der Wittenberger Reformation von 1517 (Luthers – vermeintlicher – Thesen­anschlag). Vier Jahre waren seit der Veröffentlichung des ersten Bandes ins Land gegangen, wobei der nun vorliegende zweite Teil, bei fast verdoppeltem Umfang, sich eingehend der Zeit der Hochblüte und der sich anschließenden Dekadenz widmet. Der Autor Klaus Beckmann – Studium der Philosophie, Pädagogik, Evangelischen Theologie, Schulmusik sowie Promotion in Musikwissenschaft – scheint für diese gigantische Herausforderung angesichts der enormen Themenbandbreite ein berufener Sachwalter, als den ihn nahezu hundert Pub­likationen, vorwiegend zur nord- und mitteldeutschen Orgelmusik, gewiss ausweisen.
Die Darstellung reicht von Hiero­nymus Praetorius (1560-1629) bis zu Vincent Lübeck d. Ä. (1654-1740) und umschließt glanzvolle Kom­ponistennamen wie der Praetorii, Scheidt, Scheidemann, Tunder, Weckmann, Reincken, Bux­te­hude, Hanff, Bruhns, Lübeck, Böhm etc. Werkanalysen bzw. -mo­nografien eröffnen den Zugang zu Struktur, Form, Satztechnik und rhetorischen Ausdrucksmitteln der jeweils behandelten Musikstücke. Erst die nähere Beschäftigung mit jüngeren, seit den 1970er Jahren neu- bzw. wiederentdeckten Quellen sowie ihre philologische Würdigung und editorische Aufbereitung hat einen derartigen Einblick in die überlie­ferungsgeschichtlich hochkomplexe Thematik „Orgelmusik der Norddeutschen Schule“, den Beckmann auch seinen Lesern gewährt, allererst möglich gemacht. Auf unveröffentlichtem Quellenmaterial fußend entwirft er ein nicht minder umfassendes wie spannungs­reiches Bild der Orgelmusik (nebst sozialge­schicht­licher Würdigung des Organistenstandes in den Hansestädten und den übrigen protes­tantischen Zentren) in der Renaissance und im Barockzeitalter.
Der Autor präpariert im ersten Band paradigmatisch die eigentliche geis­tige Basis heraus, auf der aufbauend es zu Gipfelerscheinungen wie Dieterich Buxtehude, Nicolaus Bruhns oder Vincent Lübeck überhaupt kommen konnte. Im ersten Teil werden somit die Rahmenbedingungen der Orgelmusik des Reformationszeitalters im weitesten Sinne dargestellt: Wittenberg bleibt das geistig-universitäre Zentrum der reformatorischen Bewegung in Hin­blick auf Theologie, Liturgie und Musikedition; evangelische Gesang­buch-Drucke spiegeln das got­tes­dienstliche Leben in all seiner Vielfalt wider, die evangelischen Kir­chen­ordnungen dokumentieren und fixieren (!) Status und Funktion des damaligen protestantischen Organisten. Im zweiten Teil­band wendet sich der Autor u. a. – kapitelweise – den wichtigen (hanse-) städtischen Zentren bzw. den dort wirksamen Organistenpersönlichkeiten zu: Hamburg, Lübeck, Danzig, Halle an der Saale, Lüneburg, Hannover, Stockholm, Braun­schweig, Rostock etc.
Beckmann liefert summa summa­rum eine faszinierende, wenn in vielem gewiss auch subjektiv bleibende Darstellung jener einzigartigen Orgelmusikkultur, die sich 1517 bis 1755 in den „Backsteinkathedralen“ des Nordens entwickelte und schließlich zu einer eindrucksvollen Hochblüte entfaltete, die freilich nicht ohne konkrete Auswirkung auch auf den Orgelbau der Zeit blieb bzw. bleiben konnte! Und er weist nach, wie es mehreren Generationen von Organisten, die zugleich bedeutende Komponisten wa­ren, damals gelang, sowohl den engen Bezug zu lutherischem Kirchen­tum und Liturgie zu wahren, zugleich aber Gipfelpunkte des freien künstlerischen Ausdrucks zu markieren.
Erstmals dokumentiert der Autor mit diesem kompendienhaft angelegten Studienbuch – das freilich ech­ten Handbuchcharakter besitzt – eine bis in entlegendste Details skopulös ausgearbeitete Sisyphusarbeit, stets am Herzschlag des musika­lischen Geschehens orientiert. Der versierte Philologe und Editor fokussiert zugleich relevante über­lieferungs-, text- und editionskritische Probleme und berührt zudem Fragen der Musiktheorie, Stil- und Figurenlehre sowie der damaligen Notationspraxis (Orgeltabulaturen). Aspekte historischer Spielweise wer­den in einem eigenen Kapitel in Band II gleichfalls erörtert, ebenso musiktheoretische Ansätze (Kom­po­sitionslehren) des 16. und 17. Jahrhunderts vorgestellt. Diese beiden prachtvollen Schott-Bände ge­hören griffbereit ins Handregal eines jeden von der „Norddeutschen Schule“ begeisterten Organisten oder Orgelfreundes!

Wolfram Adolph