Die Lüneburger Orgeltabulaturen

Harald Wießner an der Orgel des St. Nikolaikirchhofs Bardowick

Verlag/Label: sphairos audio 01 002 (2018)
erschienen in: organ – Journal für die Orgel 2019/01 , Seite 59

5 von 5 Pfeifen

Selten kommt eine Orgel-CD auf den Markt, die von solcher Gewichtigkeit ist wie die vorliegende. Harald Wießner hat sich aufs Neue mit den Lüneburger Orgeltabulaturen aus dem 17. Jahrhundert beschäftigt, deren reiche anonyme Schätze u. a. noch immer nicht vollständig neu ediert sind. In 23 Tracks bringt er Toccaten, Tanzsätze, Choräle, Praeludien und Motetten-Intavolierungen in bunter Reihenfolge, geordnet nur nach den Folianten, in denen sie sich verbergen.
Eingespielt hat er sie auf der neuen Schuke-Orgel (2013, I+P/9) des Nikolaikirchhofs in Bardowick bei Lüneburg – mit dem wohl ältes­­ten Pfeifenbestand, der in Niedersachsen zu finden ist. Vier der neun Register dieser Orgel (Manual: CDE–c’’’, Pedal: CDE–d’, 65 mmWS, mittel­tönig gestimmt) stammen wohl aus der Orgel, die Hinrik Lange (~1395–1467) – Sodmeister der Saline, Lüneburger Bürgermeister und Provisor des Nikolaistifts, Held des Prälatenkrieges – 1445 aus der Johanniskirche für die 1310 gebaute und von ihm 1434 vergrößerte Kapelle ankaufte. Der bemalte Principal, Oktave, Gedackt und Rohrflöte stammen wohl aus dieser Zeit oder sind noch älter, einzigartige Zeugnisse der hohen hanseatischen Orgelkultur in deren Blütezeit der Gotik im 14. und 15. Jahrhundert.
Harald Wießner hat aber nicht nur ausgewählte Stücke aus den Tabulaturen umgeschrieben und lebendig und klanglich reizvoll eingespielt, nein, er hat ganze Arbeit geleistet mit dem nicht weniger als achtzig (sic!) Seiten umfassenden, zudem gut bebilderten Booklet. In zwölf Abschnitten beschreibt er das wertvolle Erbe und bindet es ein in die Musikgeschichte: Praefatio, Orgelstadt Lüneburg, Das Hospital St. Nikolaihof und seine Orgel, Der historische Bestand der Orgel, Die Lüneburger Ratsbücherei, Die Lüneburger Tabulaturen, Die liturgische Musik, Die weltliche Musik, Die Schreiber der Tabulaturen (1. Franz Schaumkell, 2. Heinrich Balt­zer Wedemann, 3. Joachim Dralle, 4. Franciscus Witzendorff, 5. Matthias Weckmann und 6. Johann Kortkamp), Die eingespielten Werke (aus 1. KN 147, 2. KN 148, 3. KN 207/15, 4. KN 207/16, 5. KN 146, 6. KN 209, 7. KN 208/1 und 8. KN 210), Das Notationssys­tem der deutschen Orgeltabulatur und schließlich die Disposition und Registrierungen. Nichts fehlt, trotz der Fülle liest sich der Text flüssig und bündig, geradezu spannend, wenn es um die his­torischen Hintergründe geht. Harald Wießner ist hier das Paradebeispiel eines Booklets gelungen, wie es bei erstklassigen CD-Einspielungen heute geliefert werden sollte.
Lediglich die Technik muss vor der Wirklichkeit des Klangs im Nikolaikirchhof zurückstehen, Physik ist nun mal nicht transferierbar trotz bester Aufnahmetechnik wie hier, nur täuschend echt einzufangen, Gott sei Dank! Gott sei Dank kann man ja aber dorthin fahren, in diese frisch restaurierte gotische Kapelle am Rande der Salzstadt Lüneburg, dort hören und staunen – und nachvollziehen, was der Rechnungsführer, Küster und Organist des Nikolaikirchhofs im 17. Jahrhundert, Heinrich Baltzer Wedemann, da alles aus seinen Tabulaturen spielte.

Rainer Goede