Die historische Sauer-Orgel von 1864 im Dom zu Marienwerder / Kwidzyn (Polen)
Oskar Gottlieb Blarr, Orgel
Bewertung: 4 von 5 Pfeifen
Marienwerder liegt im ehemaligen Westpreußen und heißt heute Kwidzyn. Der bedeutende backsteingotische Dom erhielt 1862 eine neogotische Empore, und ein junger Orgelbauer wurde beauftragt: Wilhelm Sauer aus Frankfurt/Oder. Das 1864 fertiggestellte Instrument öffnete Sauer den Weg bis nach St. Petersburg; er hatte Errungenschaften des modernen europäischen Orgelbaus aus Paris (Aristide Cavaillé-Coll) und London (Henry Willis) nach Deutschland gebracht.
Die Orgel überstand beide Weltkriege, wurde aber nach 1945 aller Metallpfeifen beraubt. Neben dem imposanten Prospekt blieben alle Holzteile, so die zehn Windladen und die Holzpfeifen, erhalten; stillgelegt wurde das originale Schwellwerk – Kern von Sauers-Konzept. 150 Jahre nach der Weihe der nur notdürftig hergerichteten Klangruine entstand in Polen und in Düsseldorf eine Initiative zur Sanierung des fast vergessenen Instruments, befördert vom Wahl-Düsseldorfer Organisten und Komponisten Oskar Gottlieb Blarr, geboren 1934 im südlichen Ostpreußen.
Als die erste Stufe der Restaurierung, ausgeführt durch die Nachfolge-Werkstatt Wilhelm Sauer, im August 2023 vollendet war, entstand diese Einspielung. Den Rahmen bilden Toccata und Fuge d-Moll BWV 565 (wahrscheinlich) von Johann Sebastian Bach. Die Trennung mitten im Takt wirkt bei BWV 565 – anders als bei BWV 552 – etwas gewaltsam, auch wenn das erste Thema der Fuge die ersten acht Töne der Toccata aufgreift. Der besondere Reiz des Programms liegt in den Beiträgen aus der Region. Der Text des 1551 in Wittenberg gedruckten Choralsatzes „Es ist das Heil uns kommen her“ von Johann Walter stammt von Paul Speratus; dieser Luther-Freund war von 1530 bis zu seinem Tod 1551 der erste evangelische Bischof von Marienwerder. Dem genus loci huldigen auch die erste der Drei Fugen für Orgel op. 20 von Paul Wagner (1857–1940), der 1891 als Organist des Doms und Dirigent des Musikvereins nach Marienwerder berufen wurde, sowie Blarrs eigener Hymnus in honorem Błogosławiona Dorota (2016); die Klause der Seligen Dorota kann in Kwidzyn besichtigt werden. Vertreten sind ferner zwei Tonsetzer polnischer Zunge: Michał Kleofas Ogiński (1765–1833) mit seiner beliebten Polonaise a-Moll, genannt Abschied von der Heimat, und der Ermländer Bruch-Schüler Feliks Nowowiejski (1877–1946) mit dem herrlich kitschigen Franz Schubert: Friede, schönstes Glück der Erde op. 31 Nr. 3.
Sowohl die Orgel als auch der Organist überzeugen durch ebenso stilsichere wie prägnante Klänge. Das rekonstruierte Tiefpedal hat seinen großen Auftritt. Meister Blarr swingt trefflich in den zum Teil von ihm selbst arrangierten jazzigen Stücken Take five von Paul Desmond, The pink panther von Henry Mancini und Hymn to freedom (1968) von Oscar Peterson, alle drei geboren hundert Jahre vor dem Erscheinen dieser Scheibe, sowie seiner eigenen Toccata alla Rumba „Nun danket alle Gott“. Zum vollkommenen Glück fehlt nur eine Disposition mit der hier dokumentierten Version der Orgel – das ausführliche Booklet listet nur den ruinösen Vorzustand.
Ingo Hoddick